Familienauffstellung am offenen Grab

SCHAUSPIELHAUS / DER ERSTE STEIN

27/03/23 Ganz alte Leute haben sie auswendig gelernt, früher, als sie noch ganz jung waren: Todsünden. Kardinaltugenden. Sakramente. Gaben des Heiligen Geistes oder Gebote. Noch viel früher gab es Tugend- und Lasterbäume in der Buchmalerei, anschauliche Merkhilfen. Hilfreich für Analphabeten oder für uns Heutige. Wir kriegen ja nicht einmal mehr die paar Todsünden auf die Reihe.

Von Heidemarie Klabacher

Das Wissen über Liturgie, Bibel und Katechismus (igitt) wurde für obsolet erklärt. Wäre ja nicht soo schlimm. Nur blöderweis ist das Ganze die Basis unserer Kultur. Der alleinige Verbleib von Osterei und Christbaumkugel greift kurz.

Die Protagonisten in dem so klugen wie unterhaltsamen Stück Der erste Stein. Ein Todsündentanz kriegen sie auch nicht auf die Reihe, die sieben Todsünden. Sie finden allerdings kreative Ersatzlösungen, Korrution etwa, Willkür, Eigennutz, Egoismus, Apathie... Der Autor Bernhard Studlar hat jedenfalls im Auftrag des Schauspielhauses Salzburg mit größter Präzision und Scharfäugigkeit diesesn Ersten Stein geworfen und mitten ins Theaterherz getroffen. Sieben Personen, teils miteinander verwandt, teils auch nicht, lernen einander auf einer Beerdigung einander teils überhaut erst kennen. Der Verstorbene scheint der Vater der zwei miteinander gar nicht gut auskommenden Brüder gewesen zu sein, ein bislang un-vorhanden gewesener Halbbruder taucht ebenso überrauschen auf, wie eine mondäne Stiefmutter. Keiner hat sie noch je gesehen...

Allein diese Familien- oder eben auch Nicht-Familien-Verhältnisse gäben Raum für eine bissige Familienauffstellung am offenen Grab. Kein Wunder bei dem Gezanke, dass Autoschlüssel und Handy in der Grube landen. All das, so bissig und unterhaltsam es sein mag, ist allerdings nicht das Haupt-Thema.

In Leichtholz-Särgen ruhend und meditierend, darin vor dem unvermeidlichen Begräbnisregen Schutz suchend, darauf gemütlich rauchend herumlümmelnd, Gitarre spielend oder ängstlich sich zusammenkauernd diskutieren also sieben Personen die Sieben Todsünden, die sie ums Verrecken nicht auf die Reihe bringen. Die Liste ist ja auch über Jahrhunderte hinweg entstanden, hat biblische Quellen und keineswegs immer gleich ausgeschaut. Und außerdem sind sowieso keine konkreten „Verfehlungen“, sondern grundlegende Haltungen, aus denen nur Schlechtes hervorgehen kann... Spitzfindige Definitionsversuche – Neid und Habgier sind keineswegs das gleiche, meinen Teile der Trauergesellschaft – und immer wieder abgebrochene Versuche bis Sieben zu zählen, sind eine Art Leitmotiv durch den Text.

Der Tod selber scheint sich ein Stelldichein zu geben. Die Personen wechseln virtuos Rollen und Haltungen und verändern ohne Umbau – nur die Särge werden eifrig herumgeschoben – immer wieder die Grundstimmung. Eine „Szene“ könnte aus einem Wiener Volksstück stammen, so gemütlich wird es da. Eine winzige Ungereimtheit stellen das schützengraben-groß geschaufelte offene Grab und die Urne dar. Urnenbestattung schaut anders aus. Aber ohne Grab fehlt die Grube, und ohne Urne würde der Schluss-Gag nicht funktinieren. Das Verstreuen der Asche der Verstorbenen ist eine un-sagbare Geringschätzung, der tatsächlich nur mit der Grotekse begegnet werden kann.

Gar nicht schlecht die Idee des Autors und seiner Figuren einen „modernden“ Todsündenkatalog aufstellen zu wollen. Apathie und Korruption finden Eingang. Sind „Eigennutz“ und „Egoismus“ nicht das Gleiche? Bei den „klassischen“ Todsünden fragt man ja auch, ob etwa „Geiz“ und „Neid“ nicht das Gleiche sind... Deuten kann man das Ganze wie man mag, mehr eschatologisch  oder mehr humoristisch. Letztlich sind es die Über-Lebenden, um die es geht. Und diese sind ratlos. Und ohne Hoffnung. Dabei mache sie immer wieder so urkomische Figur.

Regisseurin Dora Schneider arbeitet die Charaktereder Figuren ohne Namen präzise heraus. Ausstatterin Ilona Glöckel zeichnet für eleganten Sargstil. Eine zentrale Rolle für Atmosphäre und Deutungsrichtung (schwankend) ist die musikalische Einrichtung durch Thomas Richter, der sich in der Musikgeschichte bis sehr weit zurück gut auskennt. Das Ensemble ist fulminant. Gestattet sei die rein alphabethische Auflistung: Johanna Egger, Theo Helm, Wolfgang Kandler, Pit-Jan Lößer, Petra Staduan, Olcayto Uslu und Christiane Warnecke.

Der erste Stein. Ein Todsündentanz – Aufführungen im Schaupielhaus Salzburg bis 16. April – www.schauspielhaus-salzburg.at
Bilder: SSH / Jan Friese