… nicht ruhen in Frieden

WINTERFEST / THE 7 FINGERS

25/11/11 Schön blöd, wenn einem Gott der Herr auf die Hüfte schlägt und man humpelt wie Jakob. Noch blöder, wenn der Teufel zuschlägt und man überhaupt nicht mehr auf Füßen, sondern nur mehr auf Händen stehen kann. Die kanadische Zirkustruppe „The 7 Fingers“ hat das elfte Winterfest im Volksgarten eröffnet - in jeder Hinsicht politisch unkorrekt: „La Vie“ ist Seelenstrip und Psychotrip.

Von Heidemarie Klabacher

altDer diabolische Spielleiter Sébastien Soldevila spielt mit all den  verlorenen Seelen tragischer Existenzen. Er lässt sich Akten vorlegen und blättert Leben und Sterben der Untoten gnadenlos auf. Dieser charmante Satan im weißen Anzug spielt aber auch - und ziemlich gut - mit dem Publikum. Wen wird er als nächstes auf die Bühne zitieren? Nummern sind verteilt, Namen notiert und aufgerufen worden…

Nicht einmal in Dantes „Fegefeuer“ ist man bei den Sündenstrafen so kreativ. Zu Rollstuhl und Handstand verdammt wurde der verstorbene Fluglinienbetreiber, weil er 34 Menschen in den Tod geflogen hat. Jetzt steht er da, auf einer Hand, den Körper wie eine Fahne schräg im Wind. Die Beine versagen…

Rollstuhl, Bahre, Krankenbett werden noch öfter gebraucht an diesem Abend. Befremdliche Requisiten für ebenso atemberaubende wie schräge Zirkusnummern: politisch erfrischend unkorrekt, ironisch, technisch überwältigend, spannungsgeladen - und urkomisch.

Die Hölle, das sind die anderen, sagt Sartre. Stimmt nicht. Die Hölle, das ist man selbst. Wenn etwa der Körper zum Gefängnis der Seele wird, nicht einmal die Zwangsjacke das gequälte Wesen ruhig stellt - und dieses auf dem Psychiatriebett mit Schutzgeländer einen urkomischen Akt der Selbstbefreiung setzt. Die Verrückte - die seit dem Saaleinlass wie ein Irrlicht durch das Publikum gegeistert ist - lutscht genüsslich an ihrer großen Zehe und macht aus der Zwangsjacke ein Zirkusgerät.

altSpäter wird sie die Leintücher des Psychiatriebettes zur Flucht in den Tod nutzen: für eine Vertikalseilnummer mit Tüchern, die das Publikum den Atem anhalten lässt in ihrer traumverloren Poesie und technischen Perfektion. Als Wiedergängerin kommt Isabell später zurück und stört beim Tangotanzen…

altNeben Krankheit ist Sex - Frust und Beziehungsknatsch - ein weiteres Leitmotiv. Es wird genauso rotzfrech und unverblümt wie ironisch und augenzwinkernd abgehandelt. Etwa in unverschämt machomäßigen Pas de Dex mit atemberaubenden Handvoltigen, bei denen die Dame nur so fliegt, dafür aber gekonnt zurückschlägt. Der teuflische Zeremonienmeister ist ein begnadeter Frauenfänger (wörtlich zu nehmen), aber auch ein Meister des Diabolo.

Damit kommen wir zu Leonárd. Patric Leonárd, ein harmloser Verstorbener wie Sie und ich, ist im ersten Bild vom Dach auf die Bühne geplumpst, hat sich den Hals gebrochen und wundert sich jetzt, wo er da gelandet ist. Er wird herumgeschubst, auf den Kopf gestellt und auch sonst schlecht behandelt. Wenn er zur Flasche greift (Kennen Sie Trick mit der Flasche und dem Besen?) dann nur für eine Kontaktjonglage, bei der die Flasche nur so auf dem Auge zu kleben scheint. Später wird er auf dem Flughafen („Airport to Hell“ zieht sich als Motiv ebenfalls durch den Abend) von der lüsternen Wachebeamtin so lange durch den Ganzkörperscanner geschickt, bis er nackt wie Gott ihn schuf dasteht und sich schämt - und endlich der Nagel in der Nase entdeckt wird.

altJa, aber das Stichwort war Diabolo. Da haben "The 7 Fingers" für ein paar unvergessliche Minuten alle Tiefgründigkeiten vergessen und purer Virtuosität und reiner Lust am Spiel die Zügel schießen lassen: Leonárd und der Hexenmeister ließen das Diablo tanzen, als gebe es keine Schwerkraft in Raum und Zeit. Freilich musste auch hier der arme Monsieur Leonárd den Tölpel abgeben und sich von seinem Spielgerät in alle Richtungen zerren lassen. 

Nicht zu vergessen DJ Pocket: Er setzt "La Vie" die klanglichen Glanzlichter auf. Spielt mit Turntables (auf den sich auch mal Weingläser drehen, gegen die zart ein Metallscheibchen schlägt, das von einem Mikrophon baummelt), bläst auf Flaschen und gleicht einer wandelnden Vogelscheuche. Bewundernswert die Präzision in der Übereinstimmung von Bewegung und Musik. Und wenn Leonárd zu "Je ne regrette rien" auf der Intensivstation liegt und DJ Pocket den ätherischen Glockenspielklang zum sachlichen Pipsen des EKGs werden lässt, dann tut sich schon wieder ein Abgrund auf - am liebsten würde man da unten bleiben.

"The 7 Fingers" spielen beim Winterfest bis 22. Dezember. Heute Freitag (25.11.) hat der Cirque Rasposo mit seinem familientauglichen Stück "Le Chant du Dindon" Premerie - www.winterfest.at
Bild: Winterfest/Vladimir Lupovskoy (2)/Eric Piche/Yannick Derennes