Dr. Hohenadl rettet das Nationaltheater

SATIRE

09/06/23 Das Nationaltheater, die erste Bühne im deutschsprachigen Raum, war in Gefahr. Das wusste Dr. Hohenadl. Jeder wusste es. Das Theater stammte aus einer Zeit, als Österreich noch groß war.

Von Werner Thuswaldner

Einige Einrichtungen aus dieser Zeit, Einrichtungen kultureller Art vor allem, hatte man nach der Schrumpfung des einst großen Landes beibehalten. Die Proportion stimmte nun nicht mehr. Aber kaum jemand dachte an Abschaffung, weil den Menschen das Gefühl der Weltgeltung nicht gänzlich genommen werden sollte. Jeder hatte eine Meinung über das Nationaltheater, auch wenn er das Haus noch nie betreten hatte.

Über die nunmerige Krise des Nationaltheaters machte sich Dr. Hohenadl kaum Gdanken. Er registrierte am Rande die Berichte über die extrem hohen Schulden und über die Entlassung der künstlerischen und kaufmännischen Leitung. Aber mehr als ein druchschnittlicher Wiener Taxifahrer wusste er darüber nicht. Sich intensiver dafür zu interessieren, fiel ihm nicht im Traum ein.

Ganz anders seine Cousine Charlotte, wohnhaft in St. Pölten. Dass sie sich lebhaft von dem Fall betroffen, ja aufgerührt fühlte, konnte als ein Beleg dafür genommen werden, wie weit die Wirkung des Theaters über die Stadtgrenzen von Wien hinausging.

Charlotte kam und fing ohne Einleitung an zu lamentieren. Ein unermesslicher Verlust drohe, sollte das Theater nicht wieder auf die Beine kommen. Kulturgut ersten Ranges stehe auf dem Spiel. Eine jahrhundertealte Tradition drohe zu verlöschen. Unvergleichliche Künstler könnten um ihre Existenz gebracht werden. Eine Blamage vor der Welt. Hilfe in letzter Minute sei vonnöten. „Nun müssen alle einspringen, die sich auch nur ein Fünkchen Kulturverständnis bewahrt haben. Das ist übrigens der Slogan, den Hofrat Wandruschka ausgegeben hat.“

„Wer ist Hofrat Wandruschka? Ein Experte?“

„Hofrat Wandruschka ist unser Präsident.“

Dr. Hohenadls Verwirrung dauerte nur so lang, bis Charlotte mit weiteren Informationen herausrückte. Hofrat Wandruschka war der Präsident eines Aktionskomitees zur Rettung des Nationaltheaters. Zwei Vizepräsidenten und einen Kassier gab es auch. Charlotte durfte sich Generalsekretärin nennen. Dr. Hohenadl war überrascht.

Als erstes habe das Aktionskomitee ein Spendenkonto eingerichtet. Und sie sei nun dabei, so viel Geld wie nur möglich einzutreiben. Der bisherige Erfolg mache ihr Mut.

Darauf also sollte Charlottes Auftritt hinauslaufen? Sie wollte an sein Geld. Ihre Absicht kam ihm höchst ungelegen. Es dauerte nicht lang, bis sie auf den heiklen Punkt zu sprechen kam. Es ging ihr aber nicht bloß um die Spende, sie wollte noch mehr. Sie wollte seine Mitarbeit im Komitee.

Dr. Hohenadl musste blitzschnell seine strikte Abwehr organisieren, ohne die Hauptabsicht, unbedingt einer in seinen Augen unnötige Geldausgabe zu entgehen, offenkundig werden zu lassen. „Liebe Charlotte, dein Eifer in Ehren, aber findest du nicht, dass du ein wenig übertreibst? Bedenke: Das Nationaltheater, ja, das war lang eine ehrenwerte Einrichtung. Die stammt aus einer anderen Zeit. Wir und alles sind Veränderungen unterworfen und müssen akzeptieren, dass es einmal zu Ende geht. Neues kommt nach. Was macht denn heute die Berühmtheit dieses Theaters aus? Ist es inzwischen nicht, mehr als das Theater selbst, das Kaffeehaus gegenüber?“

Charlotte äußerte ihre Empörung durch vernehmliches Schnauben. Ihr war, weil sie Dr. Hohenadl schon lang kannte, von Anfang an bewusst gewesen, dass sie ihn mit dem Hinweis auf eine Spende in große Verlegenheit bringen würde und war gespannt auf seine Gegenmaßnahmen. „Nur damit du es weißt: Von unserer Verwandtschaft sind so gut wie alle dabei. Ich habe die Liste. Es wird genau geschaut, wer sich ausschließt. Ich kann dir sagen: Du wirst dich diskreditieren, wenn du nicht auf der Liste stehst.“

„Ich wusste nicht, dass du eine glühende Verfechterin der Nationaltheater-Idee bist. Hast du ein Abonnement? Du müsstest zu den Terminen stets aus St. Pölten anreisen.“

„Ich brauche kein Abonnement. Wenn ich ins Theater gehe, dann ist es mein persönlicher, freier Entschluss, ohne jede Gängelung.“

Dr. Hohenadl schien es nun angebracht, einen umgänglicheren Ton anzuschlagen.

„Es muss ja nicht das Ende sein. Hat nicht auch für die Staatsoper schon hie und da das letzte Stündlein geschlagen? Und dann ging es ja doch irgendwie wieder weiter. Vielleicht kann das Nationaltheater ja in einer modifizierten Form seinen Betrieb fortsetzen.“

„Nun wirst du vernünftig. Das Sammeln von Geld ist nur das Eine. Es überrascht mich nicht, dass dich dieses Ansinnen abschreckt. Du hast in diesem Punkt einen ganz bestimmten Ruf. Das Komitee geht weit über das Geldeintreiben hinaus. Wir stellen Überlegungen an, welche Auswege aus der Krise es geben könnte und wollen konstruktive Vorschläge machen. Das ist das Andere, noch Wichtigere als die Spenden. Kommende Woche machen wir unser erstes Brainstorming. Bis dahin muss ich auch Vorschläge auf den Tisch legen.“

Mit einem Schlag stellte sich die Lage für Dr. Hohenadl anders dar. Charlotte war gekommen, um sich Etzes zu holen. „Was ist denn schon alles beschlossen worden?“

„Beschlossen noch nichts. Ein paar Gedanken sind genannt worden: Werbung für die Unterstützung unserer Initiative, Leserbriefe, ein Plakat-Aufruf, Schließtage, also Tage, an denen nicht aufgesperrt wird, um Geld zu sparen, vielleicht eine Volksbefragung. Vor Letzerem schrecken aber die meisten zurück. Wer weiß schon, was das Volk denkt.“

„Ja, ja, das Volk wird unberechenbar, wenn es anfängt nachzudenken.“

„Es ist an dir nachzudenken! Das ist doch deine Lieblingsbeschäftigung, wie du behauptest. Angeblich machst du tagelang nichts anderes als nachzudenken. Weil du deinem Vater nacheifern willst. Und das ist ein schöner Zug von dir.“

„Jetzt bin ich nicht in der Stimmung. Aber in drei Tagen kannst du mich anrufen. Vielleicht ist mir bis dahin etwas eingefallen. Bedenke aber, dass ich kein Experte bin.“

„Immer wieder haben auch Laien Ideen, die weiterführen.“

Dr. Hohenadl strengte sich nicht an. Charlotte rief schon nach zwei Tagen an. Zu diesem Zeitpunkt hatte er schon eine kleine Liste, die ihm lang genug vorkam. Charlotte war bereit zu notieren. Dr. Hohenadl fing an:

„Vielleicht gibt es welche im Komitee, die mutig genug sind, im Theater zum geeigneten Zeitpunkt Protesttransparente zu entfalten. Noch schöner wären freilich gut einstudierte Sprechchöre aus dem Publikum. Das Theater wird sich zu kürzeren Stücken entschließen müssen. Damit lässt sich sparen. Die Geduld des Publikums wird ohnehin oft überstrapaziert. Lange, komplizierte Passagen könnten von einem Erzähler kurz zusammengefaßt werden. Stücke mit kleinen Besetzungen sind gefragt. Das liegt doch auf der Hand. Überhaupt sollten vermehrt Monologe auf den Spielplan stehen. Und eine neue Form muss eingeführt werden. Neu ist sie gar nicht, denn im Bereich der Oper ist sie seit jeher üblich: Dort wird sie ,konzertant‘ genannt. Was eine konzertante Aufführung im Bereich der Oper ist, ist eine Leseaufführung im Bereich des Sprechtheaters.“

Charlotte bat ihn zwischendurch, langsam zu sprechen, weil sie mit dem Schreiben nicht nachkam.

„Mit einer neuen, revolutionären Methode für die Probe, ließen sich Riesensummen einsparen: Der Text wird einstudiert und aufgezeichnet. Auf den Proben brauchten dann nur noch die entsprechenden Bewegungen dazukommen. Das garantiert eine annähernd gleichbleibende Qualität der Aufführungen und hat den Vorteil, dass der Text nicht mehr auswendig gelernt werden muss. Bedenke, wieviel an Mühe den Darstellern erspart bleibt. Das ist aber nicht alles. Ich komme jetzt zum wichtigsten Punkt: Die Schauspieler als Kostenfaktor.“

Hier meldete sich Charlotte mit einem lautstarken Einwand:„Abstriche bei den Gehältern der Schauspieler zu machen, kommt überhaupt nicht in Frage!“

„So ist es nicht gemeint. Ganz anders: Eine lange Liste bester Wiener Familien lädt einmal die Woche eine Schauspielerin oder einen Schauspieler zum Mittagessen ein. Das bringt Ehre für die eine Seite und Einsparung beim Aufwand zur Ernährung für die andere. Die Einladungen sind als zusätzlicher Bonus zu betrachten, der die Attraktivität des Hauses für die besten Schauspieler des deutschsprachigen Raums noch steigert. Natürlich dürfen nicht bloß die Stars herumgereicht werden. Wer einen Star bekommt, muss in den nächsten paar Wochen mit Debütanten vorlieb nehmen. Ein ausgewogenes System, ein Rotationssystem, mit einem Wort.“

„Eine sehr gute Idee“, fand Charlotte. „Zum Dank könnten sie vor der Nachspeise was rezitieren. Die Schauspieler werden auf diese Weise viel besser in die Gesellschaft integriert. Manche kommen ja aus Norddeutschland, haben sich dort an der Pommes-Bude ernährt und erfahren dann hier, was es sonst noch zu essen gibt und wie lustvoll kultiviertes Essen sein kann.“

Charlotte war begeistert und Dr. Hohenadl erleichtert, weil er glaubte, mit seinen Vorschlägen die Aufforderung zu einer namhaften Spende abgebogen zu haben. Der Fall war aber für ihn noch nicht abgeschlossen. Charlotte berichtete am Telefon, wie grandios die Liste mit den Vorschlägen in der Sitzung des Komitees eingeschlagen habe. Hofrat Wandruschka sei vom Sessel des Vorsitzenden aufgesprungen und habe spontan eine Ehrung für sie als Generalsekretärin vorgeschlagen. Ausnahmslose Zustimmung. Weil sie die allgemeine Euphorie nicht habe stören wollen, sei ihr nichts anderes übriggeblieben, als den aufbrausenden Applaus dankbar und verlegen entgegenzunehmen.

„Inzwischen aber habe ich Hofrat Wandruschka angerufen und ihm gestanden, wer der wahre Urheber der glänzenden Ideen ist. Ich hätte es nicht über mich gebracht, mich stillschweigend mit fremden Federn zu schmücken. Du wirst im Rahmen einer kleinen Feier zum Ehrenmitglied des Komitees ernannt werden. Ein entsprechender Brief an dich ist schon unterwegs.“

Die Frage, ob er auf diese Weise vom Druck, für das Komitee zur Rettung des Nationaltheaters eine namhafte Spende leisten zu müssen, befreit sei, war damit noch nicht beantwortet. Darum sah er seiner bevorstehenden Ehrung mit gemischten Gefühlen entgegen.

Werner Thuswaldners Prosaband „Die Welt des Dr. Hohenadl. Ansichten eines gelernten Österreichers“ ist 2019 bei Ecowin erschienen
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Aus dem produktiven Leben eines Knauserers