Menschen und Geschöpfe sind zweierlei

FESTSPIELE / DER IGNORANT UND DER WAHNSINNIGE

15/07/16 Sven-Eric Bechtolf ist der Arzt/der Wahnsinnige. Bang braucht ihm nicht zu sein, wenn er bald nicht mehr Intendant der Salzburger Festspiele ist. Nach dem Erlernen dieses Textes hat er schon viel vom Rüstzeug für die Pathologie intus.

Von Reinhard Kriechbaum

Für jene, die mit Thomas Bernhard nicht ganz so intim sind: Die langen Abschnitte übers fachgerechte Menschenzerstückeln hat der Dichter einem universitären Skriptum entnommen, das die Methode des Anatomen Carl von Rokitansky aus dem 19. Jahrhundert beschreibt. Thomas Bernhard hatte mit seinem Halbbruder Peter Fabjan eine Vorlesung besucht und war beeindruckt von dem feinsinnigen Schwall an Fachbegriffen. In „Der Ignorant und der Wahnsinnige“, wo es ganz wesenhaft ums Scheitern der Kunst an ihrem eigenen überhohen Anspruch geht, kam dem Dichter die wissenschaftliche Suada als lebhafter Kontrapunkt gerade recht.

Gleißend. Das Wort greift noch viel zu kurz für die überrumpelnde Lichtüberflutung an der zapfendustersten Stelle. Gerade dort, wo der Arzt befindet: „Das Licht ist ein Unglück“. Diese Stelle – ein paar Sätze lang nur – hat bei den Salzburger Festspielen 1972, bei der Uraufführung des Stücks, einen Skandal sondergleichen entfacht. An der lapidaren Anweisung „die Bühne ist vollkommen finster“ und am Nein der Feuerpolizei dazu (sie beharrte auf dem Nicht-Ausschalten des Notlichts), scheiterte damals die Aufführungsserie. Claus Peymann, der das Lichtabdrehen zur Regie-Chefsache erklärt hatte, stand in der Premiere vor versperrtem Elektro-Kasten. Es gab dann aus Protest keine weiteren Aufführungen mehr (nur mehr eine halböffentliche Fernsehaufzeichnung).

Gerd Heinz und sein Ausstatter Martin Zehetgruber lösen die Angelegenheit nun am selben Ort, dem Landestheater, mit einer wahren LED-Orgie. Hunderte Lichter müssen es sein. Nach Hochfahren der Spiegelwände tauchen sie die Finalszene, in der die Königin mit dem Schrei „Erschöpfung nichts als Erschöpfung“ über dem Tisch zusammenbricht, ins blendend Irreale. Ähnlich kalt-überhell ist es vielleicht in der Pathologie, wo der ohne Punkt und Komma dozierende Anatom sonst seines Amtes waltet. Jetzt freilich ist er, der Wahnsinnige, zuerst in der Garderobe der Sängerin und dann mit ihr zum Diner in den „Drei Husaren“, wo man tunlichst Zwiebelrostbraten oder Beefsteak tartare bestelle. Letzteres zerdrücken die drei (immer dabei: der blinde Vater der Sängerin), während der Doktor pausenlos vom Sezieren redet und lustvoll mit dem Messer in die Luft sticht wie mit einem Fetisch der Welt- und Geistesanalyse.

Sven-Eric Bechtolf lässt sich die allemal für skurrile Wendungen und entsprechende Publikums-Lacher taugliche Anhäufung medizinischer Begriffe auf der Zunge zergehen, mit schnalzenden S- und Z-Lauten und kräftigen untermalenden Gesten, so als ob er dem Text und seiner Wirkung zuerst einmal abgrundtief misstraute. Bernhards Menschen- und Systemkritik ist da wie in burlesken Einsprengseln eingeknüpft. Man mag im ersten Teil Bechtolfs expressives Wort-Spiel als ziemlich übertrieben empfinden, aber es gelingt ihm nach der Pause quasi eine 180-Grad-Drehung, wenn plötzlich das Gallige, das Angriffige durchschlägt. Kinder und Narren sagen bekanntlich die Wahrheit, für die Bernhard'sche Wahrheit braucht's einen Wahnsinnigen...

An seinen Lippen hängt Christian Grashof als Vater der Sängerin. Mit Fingen und Händen zeichnet er einen Abend lang nach, was er vor dem blinden Auge zu sehen meint, mit den Lippen formt er die Dauerrede seines Gegenüber, des selbsternannten Anatomie-Kunstmenschen nach. Wie aufgestaut platzen die einzelnen Wörter und Sätze aus ihm heraus. Das muss einer auf Langstrecke so konsequent und dicht durch kriegen!

Annett Rehberg ist die Königin der Nacht, die „Koloraturmaschine“, wie es im Text vermeintlich so diffamierend heißt. Gerade an dieser Figur und ihrer Interpretation aber wird deutlich, was für hohen Respekt Thomas Bernhard vor Sängern und anderen Künstlern hatte. Auch wenn ihm keine Kunst heilig gewesen zu sein scheint. Jedenfalls nicht der Umgang mit ihr. Annett Rehberg setzt auf stimmliche Differenzierung.

In der Szene in der Künstlergarderobe schleudert sie ihre Sätze wie ent-menschlicht heraus, kalt und rauchig, um immer und immer wieder die glockenhellsten, auch virtuosen Koloraturen anzusetzen. Toll singt sie, man nimmt ihr jederzeit ab, dass sie gleich hinaus eilen wird zum Auftritt als sternenflammende Königin. Später, beim Diner mit den beiden alten Herren, wird sie sich menschlich geben, auffallend vertraut mit dem Kellner (Michael Rotschopf), momenthaft fast herzlich – und damit angreifbar, verletzlich. Ihr erbarmenswertes Husten will ja keiner der Männer hören, schon gar nicht der Arzt, der sich ein letztes Mal handfest in die Anatomie des männlichen Unterleibs hinein steigert.

Vom Kleid der Königin der Nacht muss man auch reden! Der sommerliche Festspiel-Boulevard giert ja nach Ikonen. Der Styropor-Elefant in Mammutgröße und der lebende Esel in Richard Strauss' „Liebe der Danae“ sind heuer solche Bewunder-Dinge, so wie das Swarowsky-kristallbesetzte Kleid der Anna Netrebko für eine konzertante Opernaufführung (angeblich das teuerste der Festspielgeschichte) – und eben das Kostüm der Königin, das so recht zur Geltung kommt, wenn Annett Rehberg die hohe Stufe hinauf steigt zum links und rechts von einem Blumenmeer umgebenen Schminktisch (man denkt zugleich an eine Aufbahrungshalle) und kurz wie eine Statue in Rückansicht verharrt.

Wie eben der Arzt sagt: „Menschen und Geschöpfe sind zweierlei“ … und erst Kunst-Geschöpfe!

Aufführungen bis 27. August – www.salzburgerfestspiele.at
Bilder: Salzburger Festspiele / Ruth Walz