Willkommens-Abschied oder: Endzeitliches Stückwerk

FESTSPIELE / GUSTAV MAHLER JUGENDORCHESTER

25/08/16 Ist es statthaft drauf hinzuweisen, dass es schon gehobenes Barbarentum ist, den „Abschied“ aus Mahlers „Lied von der Erde“ herauszulösen? Auch wenn Christian Gerhaher das Unternehmen vokal adelt. Ein (zugegeben gewichtiges) Schnipsel also aus jenem Konvolut, das der Komponist dezidiert „eine Symphonie“ genannt hat und er die Lieder also wohl als Zyklus verbunden wissen wollte.

Von Reinhard Kriechbaum

Professioneller als Gerhaher lässt kein Sänger den Kopf hängen. Wer hörte ihn also nicht gerne und mit Gewinn, auch wenn er bloß zum Willkommens-„Abschied“ antritt. Als solcher war die Nummer sechs aus dem „Lied von der Erde“ angesetzt, als Vorspann zu Mahlers „Neunter“ im Konzert des Gustav-Mahler-Jugendorchesters unter Philippe Jordan am Mittwoch (24.8.) in der Felsenreitschule. Ganz wunderbar, wie die jungen Leute das spielen (von der Tonschönheit und der Bläsersicherheit her). Ein wenig gewöhnungsbedürftig eher, wie Jordan das anleitet: Gerade der „Abschied“ ist ja eine Musik, in der Mahler sehr gezielt auf die Wirkung der einzelnen Melodie baut, aber in Jordans Lesart man man unwillkürlich ins Nachdenken darüber, ob die Attribute „lebendig“ oder „unruhig flackernd“ dafür besser passen.

Aber auch von einem tendenziell unorganischen Nebenher lässt Gerhaher sich nicht beirren, drückt die Hörer hinein in jenes Gefühl des Stockens und Auslöschens, dass eben im „Abschied“ zelebriert wird. Oh ja, wenn am Ende „Die liebe Erde allüberall“ aufblüht und „grünt aufs neu“: Da hat Gerhaher auch den Optimismus parat – ein gezügeltes positives Denken, gerade so viel, um drüber zu kommen über die kurz aufflirrenden Geigen...

Dann also Pause und die „Neunte“. Es ist schon beeindruckend, dass das Gustav-Mahler-Jugendorchester auf seiner Sommer-Residenz dieses kapitale Werk und dazu noch die „Neunte“ von Bruckner drauf hat (in diesen Konzerten singt Gerhaher zuvor Bachs Kantate „Ich habe genug“). Ob ein paar Notfall-Psychiater die Tournee der jungen Leute begleiten, die in den nächsten Tagen nach Amsterdam, Berlin, London, Pordenone, Dresden und Stuttgart führt?

Kein Grund zum Übermut jedenfalls bei Mahler neun, eher schon zu gewissen Zerknirschungsgefühlen auf Hörerseite. Vielleicht waren die Mahler-Brocken ja einfach zu groß für eine dann doch beschränkte orchestrale Zeit zum zusammenfinden. Vielleicht aber auch ist Jordans erzählerische Kraft nicht groß genug für den symphonischen Schwanengesang Mahlers: Nicht nur im kapitalen ersten Satz blieb es über weite Strecken beim Nebeneinander von Posen, bei endzeitlichem Stückwerk. Hat man konkret etwas erfahren von der versuchten Selbstüberwindung, mit der der Komponist da Ufer des Expressionismus ausgekundschaftet, diese aber dann doch nicht betreten hat? Es ist schon nach Maßen derb und heftig zugegangen in den Binnensätzen – aber letztlich hat sich nicht so viel Spannung (schon gar keine schier unerträgliche) aufgebaut, dass man das Adagio schließlich als den rettenden Strohhalm in Richtung gefährdeter Schönheit hätte ergreifen wollen. Ja, das „morendo“ hat Jordan wirklich ernst genommen und die Streicher in Richtung Unhörbarkeit entschwinden lassen.

Bilder: Salzburger Festspiele / Marco Borrelli