Schubert geistert durch Haydns Ländler

FESTSPIELE / SOLISTENKONZERT / SOKOLOV

09/08/18 Es ist jedes Jahr ein Fest, wenn Grigory Sokolow seinen Klavierabend im Großen Festspielhaus gibt. So auch heuer: Daran konnte auch ein überraschendes „Regentropfenprelude“, das nicht aus dem Flügel, sondern von der Decke kam, nichts ändern.

Von Gottfried Franz Kasparek

Offensichtlich ist die Sanierung des Festspielhauses wirklich notwendig. Denn heftiger Gewitterregen überforderte kurz vor der Pause das Dach und mitten im Parkett begann es zu regnen. Gottlob nicht am Podium, wo Grigory Sokolov seine Haydn-Sonaten-Suite unbeirrt zu Ende spielte. Gottlob verglühten keine Scheinwerfer im Wolkenbruch. Und nach verlängerter Pause konnte das Konzert weitergehen.

Er tritt auf wie ein in sich gekehrtes Monument der Klavierkunst. Bei ihm gibt es keine Show, keine wilden Gesten, keine feststellbare Mimik, kein Lächeln. Er setzt sich an den Flügel und spielt. Und wie er spielt. Mit fein ziseliertem Anschlag, mit gefühlvoller Akzentuierung, mit souveränem Stilgefühl und faszinierender Sensibilität. Sage niemand, man könne Klaviersonaten von Joseph Haydn nicht auf dem modernen Flügel spielen. Bei Grigory Sokolov wird ein solcher ohnehin zum klassischen Hammerklavier, hat allerdings den Vorteil, dass er im großen Raum hörbar bleibt. Und dass die Klänge Raum lassen für Visionen und Einsichten.

So geistert im Menuett der h-Moll-Sonate von 1776 plötzlich der Geist Franz Schuberts durch die ländlerhaften Töne. Wundersam, wie Sokolov drei gewichtige Moll-Sonaten – Nr. 32 in g-Moll, Nr. 47 in h-Moll und Nr. 49 in cis-Moll – zu einer praktisch pausenlosen Suite zusammenfügt. Fast eine Dreiviertelstunde lang schafft es das Publikum sogar, Hustenanfälle hintan zu halten. Sokolovs Spiel entfaltet magische Kräfte. Und zu hören, wie zeitlos modern der alte Papa Haydn ist, wie sehr diese Stücke nicht nur geläufiges Passagenwerk, sondern auch tiefe Ausdrucksmusik sind, ist ein besonderes Erlebnis. Und Sokolov kann mit seiner phänomenalen Pedaltechnik und Anschlagskultur auch den abgründigen Witz Haydns pointiert zum Vorschein bringen.

Jubel also dem Regen zum Trotz schon nach dem ersten Teil, auch wenn die experimentelle cis-Moll-Sonate am Ende unter der verständlichen Unruhe im zusehend durchnässten Publikum natürlich leiden muss.

Nach der Pause ist die Tastatur des Steinway, der an diesem Abend nie hart klingt, sondern eher wie ein Bösendorfer, anders präpariert. Zu Recht, denn Franz Schubert ist der erste und größte aller Romantiker. Die Vier Impromptus D 935 sind weit atmende Seelengemälde, verzaubert durch die klare Schönheit schwermütiger Melodik. Klarheit, das ist es, was Grigory Sokolov diesen mitunter allzu sehr in die Nähe von Salonmusik gerückten Stücken angedeihen lässt, Klarheit und Wahrheit der Empfindung, kompromisslos dargeboten mit allen Wiederholungen. Schubert wäre heilfroh gewesen, hätte er ein Klavier dieser Art gehabt, um seine klanglichen Phantasien verwirklichen zu können. Große Musik geht immer über ihre Zeit hinaus.

Zum Ritual eines Sokolov-Recitals gehört natürlich der dritte Teil, nämlich die Zugaben, diesmal sechs und sehr gewichtige. Zunächst Schuberts populäres, diesmal in seinen Brüchen aufregend modern klingende As-Dur-Impromptu aus der ersten Sammlung, dann eine brillante Rameau-Bearbeitung, gefolgt von der geheimnisvoll unendlichen Ungarischen Melodie Schuberts. Chopins „Regentropfenprelude“ ist vielleicht doch eine spontane Reaktion. Debussy – Prelude Nr. 6 – und wohl eine Skrjabin-Rarität als zutiefst melancholischer Ausklang runden diesen großen Abend würdig ab.

Bild: Salzburger Festspiele / Marco Borrelli