Gold in D-Dur, very frenchy

FESTSPIELE / SCHIFF

14/08/21 Ganz kurz war die Versuchung da, ausrechnen zu wollen, wie viele Töne man an diesem unglaublichen Abend gehört hatte: András Schiff an seinem persönlichen Flügel im Großen Saal des Mozarteums (mit den definitv unbequemsten Sitzen der gesamten Konzerthauswelt) spielte die Clavir Übung – heute bekannt als Partiten – von Johann Sebastian Bach. Eine Sternstunde.

Von Cay Bubendorfer

Es waren viele Töne. Und alle in großer Intensität verbunden durch ihren genialen Schöpfer, der sie vor rund dreihundert Jahren in diese Form brachte und den wunderbaren, uneitlen Interpreten, der sie heute vom Notenpapier in intensiv lebendige Musik rückverwandelt.

András Schiff machte das auswendig. Die sechs Partiten, bestehend aus insgesamt vierzig kürzeren und längeren Kunstwerken, führte er mit pointierten Erläuterungen zum Entstehungskontext, kompositorischen Bezügen und Finessen und einigen zeithistorischen HIntergründen ein. Erläuterte die Temperamente der Tanz-Sätze in ihren europäisch unterschiedlichen Ausprägungen, etwa der Gigue, die fünf der sechs der Partiten abschließt: Der Tradition nach als „hitzig-flüchtig“ beschriebene Tanzmusik aus Irland und Schottland, die aber auch in französischer, italienischer oder deutscher Manier in Erscheinung treten kann – und dies bei Bach auch tut.

Spannend Schiffs Begründung für die Dramaturgie des Konzerts, die nicht der Chronologie des BachWerkeVerzeichnisses folgte, sondern nach Tönen aufsteigend: G-Dur BWV 829. a-Moll BWV 827. B-Dur BWV 825. c-Moll BWV 826. D-Dur BWV 828 und e-Moll BWV 830.

Bachs Partiten seien ein enzyklopädisches Werk zur barocken europäischen Suitenform, mit einem freien Kopfsatz und Tänzen, sogenannten „Galanterien“, wie András Schiff sagt und was dann auch zu hören ist. Und in der laut beklatschten Nebenbermerkung: „Stellen Sie sich vor, die Gigue sagt plötzlich: Ich steige aus der Suite aus.“ Das Werk würde natürlich weiter bestehen. „Aber wäre es nicht viel ärmer“, fragte der Europäer András Schiff.

Was gibt es weiter zu sagen? Glückhafte Teilhabe an den Gedanken und dem intensiv hörbaren Ausdruck des meisterlichen Interpreten, für den die Partiten Farben tragen: G-Dur ist hellblau, durchörbar, witzig, gelegentlich auch leichtsinnig. a-Moll ist für Sir András dunkel weinrot, hitzig, ein feuriges Sturm-und-Drang Stück, das trotz strikter Form zum leidenschaftlichen Klang aufsteigt. „Der Beweis dafür, dass strenge Polyphonie und Glückseligkeit keine Gegensätze sein müssen!“ Die B-Dur Partita sprudle silberfarben wie ein Gebirgsbach zur Scarlatti-inspirierten Gigue. Skulptural und bronzefarben, mit (fast ironisch) wiederkehrenden Dezim-Sprüngen folgt die c-Moll Partita, bemerkenswerter Weise mit einem Capriccio (anstelle der frechen Gigue) endend. 

„Danke, dass Sie geblieben sind.“ So eröffnete András Schiff den zweiten Teil. Und tatsächlich sind nur wenige gegangen. Nicht einmal die, denen schon ab 19.30 immer wieder die Augen zugefallen sind ob der vielen Töne, die eben einzeln und in ihrem Kontext gehört werden wollten. (Man kann nicht meckern. Keiner hat dabei geschnarcht. Und die tendenziell recht unflätig geführte Diskussion zwischen pro und kontra FFP2-Masken von Anzugträgern am Pausenende – von „Halten Sie jetzt mal Ihr Maul“ abwärts – sei jetzt mal nicht weiter kommentiert).

Dann aber: Gold in D-Dur, very frenchy. Man meint angesichts der orchestralen Üppigkeit den Sonnenkönig Louis Quatorze  in den Saal schreiten zu sehen, hört die stilistische Verwandtschaft zu Rameau und Lully. Die Corrente groovt zwischendurch fast jazzig, die Gigue mit den zwei, zuletzt kombinierten, Fugenthemen wird in den Händen von András Schiff zu einer fulminanten „Tour de Force“. Und in e-Moll („Für mich dunkelgrün, wie die Matthäuspassion“, so der Pianist im verbalen Intro) stehe der krönende Abschluss BWV 830 mit der berühmten Toccata als Kopfsatz.

Schon mit der Beschreibung der hoch komplexen Struktur dieses Meisterwerks, das die gesamte barocke Klangkunst in sich vereint, würden sich viele Seiten füllen lassen. Und doch können keine Worte sagen, was András Schiff sein Publikum hier hören ließ – vollkommen durchdrungene und verinnerlichte Musik, die er im Spielen mit der Welt teilte. Mit Standing Ovations, und – wie bereits mit dem stillen Intro des Abends der Aria der Goldberg-Variationen als Vorab-Goodie gespielt und deklariert – ohne Zugabe endete eine Sternstunde der Clavir Musik.

Bilder: SF / Marco Borrelli