Der Wille, frei zu sein

FESTSPIELE / INTOLLERZANZA 1960

16/08/21 Kabul von den Taliban erobert. Schnell noch ein paar Asylanten abschieben, bevor weitere Flüchtlinge aus Afghanistan sich auf den Weg machen... Kein noch so weitsichtiger Intendant hätte das punktgenaue Zusammenfallen von Weltlage und künstlerischer Reflexion voraussehen können. Intolleranza 1960 von Luigi Nono ist 2021 aktueller und verstörender als je zuvor.

Von Heidemarie Klabacher

Menschen rennen. Stürzen. Helfen einander auf. Werden angehalten, niedergeschlagen, eingesperrt. Unzählige Menschen auf der Bühne und gleichzeitig, in sich überlagernden Bildern der LiveCams, projiziert an die Arkadenwand der Felsenreitschule. Tatsächlich sind es „nur“ 167 Mitwirkende. Sie kommen aus vierzig Ländern und sprechen dreißig Sprachen. Sie werden von Scherginnen und Schergen (man legt Wert auf Gender-Gerechtigkeit) geschlagen, gefoltert. Gehen danach, wiewohl blutbefleckt, wieder in der Masse auf. Bis sich für Momente das nächste Tableau der nächsten Szene herauskristallisiert – das sich auch schon wieder auflöst in der rotierenden Menge. Folterer und Opfer, Liebende und Verzweifelnde gehen unter im ständigen Bewegungsfluss...

Intolleranza 1960 von Luigi Nono hatte am Sonntag (15.8.) Premiere in der Felsenreitschule. Die Azione scenica in zwei Teilen ist neben dem Don Giovanni die zweite Opern-Neuproduktion dieser Festspiele. Jan Lauwers, verantwortlich für Regie, Bühne, Video und, zusammen mit Paul Blackman, für die Choreografie zeigt sich einmal mehr von seiner bekannten Seite als Meister der Inszenierung der Massen. Viele Menschen in ständiger Bewegung: Das ist bei einem Flüchtlingsdrama um vieles logischer, als etwa bei einem großteils intimen Kammerspiel wie Monteverdis Poppea, die Lauwers 2018 samt ihrem Nerone in Bewegung gebracht hat.

Aber auch diesmal stellt sich die Frage, ob weniger Aktionismus nicht mehr – oder doch wenigstens ausreichend – gewesen wäre. Tatsächlich sind die intimen Momente der Cinemascope-Produktion die eindrücklichsten. „Als Luigi Nono in jungen Jahren gefragt wurde, ob er sich vorstellen könne, eine Oper zu schreiben, sagte er, so wird es berichtet, in etwa Folgendes: Ja, das könne er sich sehr wohl vorstellen, allerdings nicht für ein traditionelles Opernhaus. Das sei ausgeschlossen. Als Aufführungsort schwebe ihm eher die Piazza del Campo in Siena vor.“

Mit der Felsenreitschule als Location ist man der Vorstellung des Komponisten wohl ziemlich nahe gekommen. Mehr Raum hat kaum eine Spielstätte weltweit zu bieten. Freiluft – Domplatz – ist in Salzburg keine echte Option. Aber vielleicht wäre eine noch eindringlichere Wirkung des Stücks auf kleinerem Raum zu erreichen?

Die Hauptperson – Un emigrante, stimmlich und darstellerisch überzeugend verkörpert von Sean Panikkar – hat mit Anna Maria Chiuri als Una donna eine neue Frau gefunden. Die beiden werden von seiner früheren treuen Gefährtin – Sarah Maria Sun als La sua compagna – oder deren Trugbild angegriffen: In diesen Momenten bekommen die Protagonisten, die in all ihrem Leid doch nur Archetypen bleiben, Persönlichkeit und Individualität. Besonders beeindruckend: Anna Maria Chiuri beeindruckt nicht nur im ihren Vokalpart, sie bewältigt souverän und elegant geradezu akrobatische tänzerische Aufgaben – um im nächsten Moment wieder voller Ruhe zu singen.

Gegenstück zum sich dauerdrehenden Derwisch in der Poppea ist nun in Intolleranza die sich dauerschüttelnde Figur des Blinden Poeten, der in Person Victor Afung Lauwers zu Beginn des zweiten Teils einige vom Regisseur verfasste Absurditäten des heutigen Lebens aufzählt – und zusammengeschlagen wird. Luigi Nono verwendete Texte von Henri Alleg, Bertolt Brecht, Paul Éluard, Julius Fučík, Wladimir Majakowski, Angelo Maria Ripellino und Jean-Paul Sartre.

Die „Masse“ wird gebildet von Mitgliedern und Solisten der Lauwer'schen Needcompany, von Tänzerinnen und Tänzern von BODHI PROJECT und SEAD, der Salzburg Experimental Academy of Dance, und von der Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor, die sich immer wieder als kommentierender Chor erkennbar positioniert, aber auch aus dem allgemeinen Tumult heraus sich zu Wort meldet. Tatsächlich sind Bewegungs- und Gesangschor nicht immer zu unterscheiden. Grandios die Leistung der Sängerinnen und Sänger, ihren diffizilen Part in den Turbulenzen rundum so glasklar, präzise und homogen abzuliefern. – Ohne Noten, was die Leistung noch einmal beeindruckender macht.

Ingo Metzmacher leitet die Wiener Philharmoniker, deren Bläser und Streicher sich großteils im angehobenen Orchestergraben drängen, während eine beeindruckende Schlagwerk-Batterie und weitere Instrumente auf einer Galerie links vorne bzw. rechts seitlich positioniert sind.

Es dominiert, effektvoll und erschreckend pointiert von Metzmacher gezündet, das Schlagwerk. Der Streicherpart bleibt ein wenig unterbelichtet, kommt vor allem in den ruhigen Passagen zusammen mit dem brillant gesungenen Chorpart zur Wirkung. Auch hier drängte sich die Vorstellung einer etwas reduzierten Besetzung auf.

Der Jubel des Publikums entsprach der Größe der mit diesem Meisterwerk angesprochenen Frage nach Menschlichkeit und dem Recht jedes Menschen auf ein Leben in Unversehrtheit und Frieden. „Zu keiner Zeit war der Wille, frei zu sein, bewusster und stärker. Zu keiner Zeit war die Unterdrückung gewalttätiger und besser ausgerüstet“, sagt einmal die Stimme Sartres. Eine Produktion, würdig dem Friedensprojekt Festspiele.

Intolleranza 1961 wird am 26. August um 19.30 auf Ö1 gesendet. Die Aufzeichnungen von UNITEL in Kooperation mit WDR /ARTE wird ausgestrahlt am 21. August um 19.30 im Internet auf ARTE Concert und um 22.15 auf 3sat - www.salzburgerfestspiele.at
Bilder: SF / Maarten Vanden Abeele