Mythologische Leichenteile

FESTSPIELE / URAUFFÜHRUNG DIONYSOS

28/07/10 Fünfzehn Jahre lang hat der Komponist Wolfgang Rihm an seiner Nietzsche-Oper gekiefelt. Vor einem halben Jahr hat er ganz von vorne damit angefangen, vor zwei Monaten, am 25. Mai, die letzte Note in die Partitur geschrieben. Gestern, am 27. Juli, war Uraufführung. „Dionysos“ - ein einziges Crescendo an Opulenz für Aug und Ohr.

Von Heidemarie Klabacher

„Die Worte sind von Nietzsche, der Text ist von mir“, sagt Rihm selbstbewusst. Aus Bruchstücken von Friedrich Nietzsches Hymnen an Dionysos (Dithyramben nennt man Gedichte an diesen Gott) hat Rihm das Libretto zusammengeklaubt. Es ist ein eindringlicher, durchaus sinnfälliger Text geworden. Warum Rihm die bildkräftigen, opulenten, mit Sexualität und Gewalt bis zum Wahnsinn aufgeladenen Verse Nietzsches nicht einfach übernommen, sondern als Wort-Steinbruch gebraucht hat, will sich dennoch nicht erschließen.

Bei Rihm jedenfalls sitzt eine klagende Frau auf kahler Klippe. Ariadne. Ein Mann ist auch da, ein Segens- und Unheilbringer für die Einsame. „N“ heißt er. Das wird wohl für „Nietzsche“ stehen, welcher in den Tagen seines Wahnsinns seine Briefe mit dem Namen des Gottes zu unterschreiben pflegte.

Was hat Ariadne überhaupt mit Dionysos zu tun? Nachdem sie Theseus mit ihrem roten Faden aus dem Labyrinth des Minotauros herausgeholfen hat, hat der Held sie auf einer einsamen Insel sitzen lassen. Der Gott Dionysos hat die Einsame getröstet/heiratet/wieder belebt. Es gibt freilich auch Versionen, in denen der Gott das Mädchen von Theseus einfach gefordert hat - und sich mit einem Gott anlegen, war noch nie klug…

Die erste Szene in Wolfgang Rihms Opernphantasie „Dionysos“ ist jedenfalls ein eindringliches Kammerspiel um die Sprachlosigkeit zwischen Mann und Frau: um jene Sprachlosigkeit, die keine Liebe, kein Begehren je wird überwinden können. Der gehaltmäßige Höhepunkt der Oper.

Auch in der Rihm’schen Textgestalt ist alles aufgeladen mit erotisch-sexuellen Metaphern („Willst du hinein, hinein, hinein“ - „Tiefer, tiefer, tiefer“). Verzweifelt will sie ihn zum Sprechen bringen: „Sprich endlich, sprich.“ Er reagiert nicht. Spricht nicht, quält sich ab mit Lauten und Worten, die nicht aus seinem Mund heraus wollen. „Ich bin dein Labyrinth“, stößt „N“ schließlich gepresst hervor.

Die Silben des Wortes „Labyrinth“ sind Ausgangspunkt für Lachen (La-, La-, Labyrinth) und Kichern (Labyrihihi): Denn auch Nymphen und Delfine (die freundlichen Meeressäuger gehören zu den offiziell-mythologischen Begleitern des Gottes Dionysos) tummeln sich im Wasser und auf dem Felsen. Das Paar Ariadne/“N“ mag derweil mit einem roten Seil (Achtung: Anspielung - „Ariadnefaden“) verzweifelte Fesselspiele aufführen - sie können sich dennoch nicht aneinander binden. Das wird nichts, in Ewigkeit.

Dann plötzlich: Auftritt von „Ein Gast“. Noch vor dem ersten Wort wendet sich Ariadne ihm zu. Der Kontakt stellt sich von selber her, wenn es um den richtigen Menschen geht. So banal die Erkenntnis, so eindringlich und bewegend ist das dargestellt.

Trotzdem wartet man die ganze Zeit auf den Auftritt der Komödianten. Auf die Verwandlung einer Nymphe in eine Zerbinetta, die den ganzen bedeutungsschweren Weihekram zurück auf die Erde holt.

Was geht schief? Denn musikalisch, sängerisch, darstellerisch spielen alle in der Festspiel-Oberliga.

Mojca Erdmann ist ein Glücksfall für die Rolle dieser Ariadne: Strahlend klar entfalten sich ihre Töne auch in teils extremen Höhen. Elegant wie eine Tänzerin schmiegt sie sich an den Fels. Matthias Klink als „Ein Gast“ und später Apollon gebietet über einen strahlenden Tenor, der nur anfangs ein wenig eng in der Höhe ist. Johannes Martin Kränzle als „N“ ist stimmlich und darstellerisch ebenso überzeugend: kein jugendlicher Liebhaber, daher gesetzter in der Bewegung, drängend dennoch im Begehren. Allfällige Unbehilflichkeit beim vergeblichen Haschen nach den Nymphen (Verwünschte Nicker!) ist überzeugend gespielt.

Rheintöchter sieht man tatsächlich vom ersten Bild an vor seinem inneren Auge schweben und schweifen. Mit drei silbrigen Wasserwesen auf der Bühne lässt sich das wohl kaum vermeiden, und wäre ja auch nicht so schlimm. Wenn nicht Wolfgang Rihms Musik ständig klänge wie eine Mischung aus Strauss und Wagner.

Wenn gar noch Felsen gekraxelt wird und Ariadne und „Ein Gast“ sich mit älplerischen Jodelweisen ansingen, scheppern in Hinterkopf unweigerlich die Kuhglocken aus der Alpensymphonie dazu. Und von diesem Eindruck erholt man sich nicht mehr wirklich. Aber es kommt noch dicker. Die Opulenz nimmt erbarmungslos zu: in der Musik, aber auch in der Ausstattung.

Mit dem grandiosen Jonathan Meese haben sich die Festspiele wieder einmal einen bildenden Künstler als Bühnenbildner geleistet. Sein unprätentiöser Fels, der sich als unglaublich wandlungsfähig und vielgestaltig erweist, ist denn auch ein kluger, eindrücklicher Wurf. Die zweite Szene „Im Gebirge“ stattete Mese ebenfalls mit höchst reduzierten, funktionellen pyramidenartigen Gebilden aus, die zusammen mit sparsam eingesetzten Licht- und Schattenwirkungen ein überzeugendes Gebirge ergeben. Der Chor (transparent und kräftig im Klang: die Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor) tritt temperamentvoll auf: sesselwerfend und Sondernummern der Zeitschrift „Nietzsche“- bzw. „Dionysos-Total“ lesend. Wieder ist Musik und Bewegung in perfekter dynamischer Übereinstimmung. Aber bald verhandeln „N“ und „Ein Gast“ in luftigen Höhen ausgiebig die Gefahren und Seligkeiten des Abgrunds und den Vorgenuss des Todes. Das ist sprachbildmächtig aber statisch und inhaltsleer.

Regisseur Pierre Audi hat beste Arbeit in der Personenregie geleistet. Alle Figuren, auch die Nymphen, Delfine und später die Huren (Elin Rombo, Virpi Räisänen und Julia Faylenbogen) zeigen Profil und Präzision bis in kleinste Bewegungen und Gesten. Präzise und genau ausgelotet ist die Koordination mit der Musik. Dynamik und Agogik der Musik sind exakt in der Szene gespiegelt.

Wortdeutlichkeit zeichnet alle Sängerinnen und Sänger aus. Auch ohne Mitlesen der Übertitel verstünde man die Worte, die sich zu teils schrägen Sprachbildern zusammensetzen. Dirigent Ingo Metzmacher ist der Hexenmeister, der das Deutsche Symphonie-Orchester Berlin in diesen ebenso ungebärdig wilden wie präzise kontrollierten Teufelsreigen hineinreitet.

Ins Puff als nächstes: Jonathan Meese hat es mit Bällen verschiedner Größe, einem zerquetschten Möbiusband als Sofa und einer überdimensionalen Flasche mit Strohhalm ausgestattet. Hier passiert wieder eindeutig Mythologisches: „N“ und „Ein Gast“ tun, was Männer im Bordell vermutlich tun. Doch bald wird „Ein Gast“ viergeteilt, von den vier topmodell-tauglichen Esmeralden. Der zerrissene und wieder auferstehende Gott - Bild des Jahrlaufs wie des Lebens in fast allen Kulturen - ist hier das Thema. Natürlich ist auch Orpheus von den Frauen zerrissen worden und die Orphiker wiederum sind mit dem Dionysoskult eng verbunden.

Im vierten Teil wird noch eine Art Marsyas gehäutet. In der echten Mythologie hat Marsyas dummerweise den Gott Apoll zu einem Wettkampf im Flötespielen herausgefordert. Er hat verloren und ist vom Gott abgestraft worden. Im Haus für Mozart hält das nur noch den Betrieb auf. Wenn auch Uli Kirsch als „Die Haut“ eindrückliche Falten schlägt. Aber warum? Wenn man schon Mythologiegeschichte erzählen will, doch bitte ein wenig genauer nach Karl Kerény. Hier werden die mythologischen Leichen-Teile dem Zuschauer hingeworfen, wie dem Hund die Knochen. Nach dem Motto: Friss (und dechiffriere) oder stirb.

Weitere Vorstellungen: 30. Juli, 5. und 8. August. Eine Aufzeichnung der Premiere wird am 30. Juli um 19.30 auf Ö1 gesendet. - www.salzburgerfestspiele.at
Bilder: SF / Ruth Waltz
Zum DrehPunktKultur-Vorbericht Dionysos wird nicht sterben