Fantasien in die Weite und in die Tiefe

FESTSPIELE / MITSUKO UCHIDA

28/08/21 Die meisten Pianisten machen einen ganz weiten Bogen um Schuberts Sonate G-Dur D 894. Das hat einen guten Grund: Das kapitale Werk, dessen erster Satz an die Länge eines Bruckner-Symphoniesatzes herankommt, gehört zum Komplexesten, was Schubert den Klavierspielern überantwortet hat.

Von Reinhard Kriechbaum

Da braucht es also schon eine Exegetin vom Rang der Mitsuko Uchida, die allmählich in die Fußstapfen von Alfred Brendel tritt. Auch der hatte sich in zunehmendem Maß auf wenige Komponisten konzentriert. Mitsuko Uchida – so alterslos, wie sie einem auf dem Podium gegenübertritt, will man ihr die 72 Jahre gar nicht abnehmen – ist ebenfalls auf diesem Weg. Sie verinnerlicht ihr Kernrepertoire. Als Schubert-Interpretin ist sie sowieso die längste Zeit schon eine Instanz.

Wenn also sie sich, wie im Solistenkonzert am Freitag (27.8.) im Haus für Mozart, das als Fantasie-Sonate bekannt (oder eben weniger bekannt) gewordene Stück vorknöpft, ist Vertiefung pur angesagt. Wie aus Urgründen lässt sie das ultra-ruhige, akkordisch gefasste Thema aufsteigen, sich nach ein paar Staccato-Tönen verfestigen, wendet es alsbald ins Gesangliche. Fein tariert mischt sie dann das Leichtere ins im Grunde monolithische Geschehen. Die leicht tändelnden, wiegenden Seitengedanken tauchen auf und gehen wieder unter. Die legendären Schubert'schen Abgründe lauern ja überall, wenn hier auch nicht immer offensichtlich. Stets trifft Mitsuko Uchida das rechte Gewicht, um die Spannung zu halten – die Interpretations-Aufgabe schlechthin für dieses Satz-Monster. Die legendäre Stecknadel könnte man fallen hören in diesen gut zwanzig Minuten, bis Uchida das unterdessen so mannigfach im Chroma veränderte Thema als eine Art Hymnus steigert und zugleich verhauchen lässt.

Auf diesen Eröffnungssatz folgen vermeintlich überschaubarere, aber kaum weniger un-durchschaubare Sätze, mündend in jenes bald „un poco piu lento“ zu denkende Allegretto, das Mitsuko Uchida vermeintlich „wienerisch“ tanzend, aber auch zerklüftet daherkommt. Für die charakteristischen Achtel-Wiederholungen in den Auftakten findetb sie immer neue Klangvaleurs. Das reicht bis zu einem aggressiven Hämmern und bleibt doch leicht, vermittelnd. Ein Gedicht an Differenzierungskunst.

Verkehrte Welt? Der Herausgeber der Fantasie-Sonate hat dieses Wertk seiner Kundschaft als „Fantasie, Andante, Menuetto und Allegretto“ schmackhaft zu machen versucht, so als ob das Ganze den Spielern daheim in den Salons damals nicht zumutbar gewesen wäre. Robert Schumann wiederum argwöhnte in Schuberts Vier Impromptus D 935 eine verkappte Sonate. Eine weitere riesenhafte Sonate, gut getarnt als Folge von Charakterstücken? Egal eigentlich, wenn man sie so spielt wie Mitsuko Uchida, die ihren Hören damit an diesem Abend späten Schubert in einen letztlich fast übervollen Geschenkkorb packte.

Das große Wunder ihres Schubert-Spiels: Es greift eins ins andere, über Zäsuren, auch Satz- und in dem Fall Stückgrenzen hinaus. Da muss im berühmten B-Dur-Impromptu jede der vier Variationen gerade in dieser zwingenden Reinhenfolge kommen – wäre anders nie und nimmer vorstellbar. Und von der Nummer eins, in einem mit scheinbar fernöstlicher meditations-Ruhe sanft perlendem Dauer-Melos, bis zur Nummer vier, mit fast ruralem, bärbeißigem Anschlag angegangen: Das war ein Makrokosmos, der Schumanns Sonaten-Verdacht mehr als rechtfertigte.

Kann man nach einem solchen Programm eine Zugabe geben? Nein – oder doch? Schönberg stand mit beiden Beinen auf dem Boden der Wiener Tradition. Die Nummer zwei aus den Sechs kleinen Klavierstücken also. Anderthalb kostbare Minuten, für die allein sich der Besuch des Konzerts ausgezahlt hätte.

Bilder: Salzburger Festspiele / Marco Borrelli