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Du vergeudest mich

FESTSPIELE / LULU

02/08/10 Sektumtrunk im Zuschauerraum. Warum nicht? Wenn irgendein Sponsor seine Gäste zu bewirten wünscht, servieren die Platzanweiser auch Sekt auf offener Bühne … Recht hübsch, vielleicht ein wenig plakativ, die Idee, den dritten Lulu-Akt in den Zuschauerreihen beginnen zu lassen.

Von Heidemarie Klabacher

„Alle Welt gewinnt! Alle Welt hat gewonnen! Auch die Bank hat gewonnen! Ja, es ist kolossal, wo das viele Geld her kommt. Fragen wir nicht danach.“ Frank Wedekind muss unsere Zeit im Auge gehabt haben, als er diese Zeilen schrieb. Ob es tatsächlich die „Gesellschaft“ ist - Wucherer, Spekulanten, Mädchenhändler oder Kupplerinnen - die Lulu zur scheinbar männermordenden Megäre gemacht hat, sei dahingestellt. Wirkungsvoll war es auf jeden Fall - in Zeiten des Banken-Crash - den Schacher mit „Jungfrau-Aktien“ inmitten des Salzburger Festspiele Opernpremieren-Publikums zu erleben.

Nur: Wenn es eine Provokation hätte sein sollen, ist sie nicht aufgegangen. Regisseurin Vera Nemirova wurde nach der Premiere am Sonntag (1.8.) in der Felsenreitschule mit ebenso freundlichem (lahmen?) Applaus begrüßt, wie das Regieteam und die Ausführenden.

Weil es sich eben so gehört - und weniger aus Begeisterung - schien man den Applaus ein wenig anschwellen zu lassen, als Patricia Petibon sich verneigte. Ihre Lulu ist tatsächlich ein wenig bizarr. Ob sie von Anfang an wahnsinnig ist und deswegen ständig wild die Augen rollt? Jedenfalls kann man in diesen Augen den Hass glühen sehen, wenn wieder ein Mann sie nicht beim Namen nennt - und damit als Person ansieht - sondern sie als „Eva“ oder „Mignon“ zur Projektionsfläche eigener Wünsche stilisiert.

Auch ist der starke französische Akzent in den Sprechszenen gewöhnungsbedürftig. Sängerisch und darstellerisch aber ist Patricia Petibon eine ideale Lulu. Die dramatischen Höhen der Partie nimmt sie mit strahlender Kraft. Den lyrischen oder verzweifelten Passagen verleiht sie hochemotionalen vielfarbigen Ausdruck. Anziehen kann man der zierlichen Französin ohnehin, was Kostümbildner-Phantasie nur ersinnen mag: Klaus Noack steckte diese Lulu in bizarre federnweiße Paradiesvogel-Outfits, schuf ein Tierweibchen, ein kaum menschliches Objekt. So bleibt der Bezug zum Prolog, in dem der Tierbändiger das Publikum in sein Bestiarium einlädt, durchgehend erhalten, die Geschichte in sich geschlossen.

Michael Volle, der stimmlich souveräne, in seiner Zerrissenheit charismatische Darsteller des Doktor Schön, bekam etwas deutlicheren Applaus. Doktor Schön hat das Kind Lulu einst aus der Gosse geholt, in die Schule geschickt und - vermutlich - von Anfang an missbraucht. Den Rest seines Lebens ringt er darum, Lulu von sich zu stoßen, um endlich bürgerlich heiraten zu können. Lulu klammert sich an ihren Retter mit der Wut der Verzweifelten, erschießt ihn und flieht nach London.

Diese gnadenlosen Duelle zwischen Lulu und Dr. Schön sind sängerische und darstellerische Höhepunkte. „Wenn du mir deinen Lebensabend zum Opfer bringst, so hast du meine ganze Jugend dafür gehabt“, singt Lulu. Da muss man keine Mythologie bemühen, keine Büchse mit allem Übel dieser Welt öffnen („Erdgeist“ und „Büchse der Pandora“ heißen die Dramen, aus denen Wedekind später „Lulu“ zusammengestellt hat): Lulu ist einfach ein missbrauchtes Kind - nicht nur ihrer Zeit.

Tanja Ariane Baumgartner ist eine noble und zurückhaltende Gräfin Geschwitz: Sie leiht Lulus weiblicher Verehrerin und Liebhaberin ihren ebenso vollen wie kontrolliert geführten Mezzosopran. Als loyale Freundin Lulus bis zum Schluss ist sie eine einprägsame Gestalt. Sie wird übrigens von Jack the Ripper nicht erstochen! Sie überlebt - und beschließt: „Ich werde immatrikulieren.“ So stark ist Tanja Ariane Baumgartner in dieser Szene, dass einem das Lachen über diese unerwartete Text-Zutat im Halse stecken bleibt. Man nimmt ihr tatsächlich ab, dass sie Jurisprudenz studieren und sich für Frauenrechte einsetzen wird. Gut gemeint - und gar nicht mal so schlecht angekommen.

Pavol Breslik als Maler, Thomas Piffka als Dr. Schöns Sohn Alwa, Franz Grundheber - eine Luxusbesetzung für den geheimnisvollen greisen Sandler Schigolch (vielleicht Lulus Vater), Thomas Johannes Mayer als Tierbändiger und fürderhin souverän intrigierender Athlet, Heinz Zednik als Prinz und Kammerdiener: seine Luxusbesetzung, die eine hervorragende Ensembleleistung ebenso garantiert, wie unzählige berührende oder erschreckende Momente.

Ihnen allen assistieren die Wiener Philharmoniker unter der Leitung von Marc Albrecht: vollmundig, süffig, wienerisch, mit enormen Zug, pointierten Rhythmen und vielfärbigem Orchesterklang. Nicht nur im dritten Akt klingt vieles nach Mahler.

Bleibt noch, vom Bühnenbild zu schwärmen: Daniel Richter hat die Felsenreitschule zugehängt (die Arkaden hätten auch tatsächlich nirgendwo dazu gepasst). Grellfarbige Fratzen in richter-typischen Neonfarben dräuen großflächig über dem Publikum. Hier ein Affe, dort ein Panther erinnern an den Tierbändiger-Prolog. Mit kleinen Variationen in der Lichtregie von Manfred Voss werden hochdramatische Farbeffekte erzielt.

Der Hintergrund zum dritten Akt - auf den Pulten liegt die dreiaktige Fassung der Alban Berg-Oper mit dem ergänzenden „Cerha-Akt“ - ist eine stilisierte düstere Winterlandschaft. (Der winzige Elefant mag ebenfalls an den Prolog anknüpfen.) Die schwarze Pyramide, die den Salon im zweiten Akt geziert hat, ist nach hinten gekippt zur Jurte (wenn auch dreieckig), zum Stall von Bethlehem oder eben zur armseligen Absteige in London geworden.

In der ersten Szene erblicken wir das überdimensionale Porträt, für das Lulu dem jungen Maler gerade Modell steht, bevor die beiden im Bett landen, den Herrn Medizinalrat ob des Anblicks der Schlag trifft und der tödliche Reigen beginnt.

Dieses Porträt ist - in verkleinerter Form - leitmotivisch. Der Mädchenhändler, der Lulu ins Bordell nach Ägypten verschachern will, hat es als Reklamefoto verschickt. Die Gräfin Geschwitz bringt es Lulu auf ihrer letzten Station - besagter Huren-Absteige in London - damit sie es zu Geld machen kann. Kopien hängt die Gräfin dem ebenfalls nach London geflohenen Schigolch, um: als Plakatmann wirbt er mit Lulus Bild um Kunden. Den Auftritt Jack the Rippers hätte es nach diesem Tiefpunkt der Erniedrigung nicht mehr gebraucht. Der rote Fleck auf dem Spiegel über der Szene (die Hinterseite des Porträts) ist danach genau über Lulus tödlicher Wunde: Menschliches Leid ins Übermenschliche vergrößert.

Weitere Vorstellungen: 4., 6., 11., 14., und 17. August, jeweils um 19 Uhr in der Felsenreitschule. Die Premiere wird heute Montag (2.8.) um 22.50 Uhr auf ORF2 und am 7. August um 20.15 Uhr auf 3sat gesendet. Ö1 sendet eine Aufzeichnung am 7. August um 19.30 Uhr.
Bilder: SF / Monika Rittershaus

 

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