"Jeeedeeermaaaann!!!"

FESTSPIELE / REPORTAGE / JEDERMANN-RUFER

04/08/10 Wer ruft Jedermann mit mindestens 105 Dezibel zur Besinnung? Die Festspiele setzen zur Jubiläumsvorstellung am 22. August eine kleine Armee von neuen Rufern ein, die in einem öffentlichen Casting am 17. August ausgewählt werden. - DrehPunktKultur hat schon mal vorab zugehört und gelernt: Jedermann-Rufen ist kein Plärren-was-geht.

Von Reinhard Kriechbaum

altDer Kandidat geht in Schrittstellung, als ob er zum Weitsprung aus dem Stand ansetzte. Sein Gesichtsausdruck ähnelt jenem der hoffnungsvollen Jung-Athleten, die sich im Fitnessstudio wieder einmal zu viel Gewicht aufgeladen haben. Aber das wird das Publikum nicht merken, denn der Jedermann-Rufer wird ja weit weg stehen: auf der „Katze“ (Festungsbastei) oder auf dem Turm der Franziskanerkirche. Weitere Rufer, die den reichen Prasser mit Vehemenz zur Besinnung rufen, sind traditionellerweise unter den Domarkaden und in der Domvorhalle postiert. Einer steht hinter der Mariensäule auf dem Domplatz. Sechs Rufer sind es normalerweise.

Bei der Festvorstellung zum 90-Jahre-Jubiläum des "Jedermann" am 22. August haut man aber ordentlich auf die Pauke: "Da werden zwanzig Rufer in der Altstadt postiert", sagt Josef Schlömicher-Thier, Festspiel-Arzt und Stimmen-Spezialist. Die fünf oder sechs Besten beim Casting haben auch gute Chancen auf eine einschlägige Karriere für künftige "Jedermann"-Aufführungen im Normalbetrieb. Ersatzmänner sind schließlich immer gefragt.

"Es ist mir ein Anliegen, die Rufstimme zu fördern und zu pflegen", erklärt Schlömicher-Thier, der sich diese Rufer-Aktion zum Jubiläum ausgedacht hat. Wie läuft ein Casting ab? Da beurteilt eine Jury Tragfähigkeit und Schönheit der Stimme, aber es werden auch harte Facts aufgezeichnet: Die Rufer bekommen ein Stirnband mit Mikrophon an einem Teleskopstab bekommen. altIn genau dreißig Zentimetern Entfernung von den Lippen wird gemessen. Der Phonomat liefert exakte Daten. „108 Dezibel, bei 370 Hertz“, verkündet der Arzt, der die Werte vom Bildschirm abliest. Unter 105 Dezibel geht gar nichts, schließlich ist ein gewisser urbaner Lärmpegel zu übertönen. Der Hertz-Wert bestimmt die Stimmlage. „Wir brauchen Tenor- und Baritonrufer.“ Bei dem Casting, das DrehPunktKultur vor ein paar Jahren besuchte, lag der Spitzenwert 111 Dezibel.

Jedermann-Rufer vollbringen auch eine sportive Leistung: „Geht man vom Fitness-Parameter aus, so erfordert die Rufstimme die höchste Leistung in Watt.“ Was muss man sich überhaupt vorstellen unter 111 Dezibel? „Das liegt etwa bei einem 150-PS-Auto bei Vollgas."

altJosef Schlömicher-Thier ist nicht nur „Hausarzt“ (Betriebsmediziner) bei den Festspielen, sondern als Stimm-Spezialist auch der Betreuer vieler Sänger. Im Sommer ist er beinah rund um die Uhr anwesend. Da lag es nahe, dass er sich auch der Jedermann-Rufer annimmt. Schlömicher-Thier, zugleich Vorsitzender des Austrian Voice Instituts, hat mit weiteren Fachleuten eine Studie über die Rufstimme verfasst. Die Jedermann-Rufer waren willkommene Probanden. Jedermann-Rufen ist kein Plärren-was-geht: Aus der Sicht des Arztes will es "physiologisch und gesund produziert" sein und "mit den Regeln der Stimmhygiene im Einklang" stehen.

Die Rufstimme entstehe, indem mittels erhöhtem Atemdruck und vollständigem Glottisschluß ein kurzer anschwellender, kräftiger Ton produziert wird, erklärt der Stimm-Arzt. Frequenzmäßig entspreche das dem höchsten und lautesten Stimmbereich des Brustregisters. Das Schreien dagegen sei eine frequenzmäßig überhöhte, grobschlägig knarrende, ins Falsett kippende, häufig emotionsgeladene Stimme. "Zwischen Rufen und Schreien ist also ein großer Unterschied." Rufen sei sozusagen die Königsdisziplin der Bruststimme, wie beim Singen werde die Stimmbewegung durch Stütze elastisch gepuffert. Beim Schreien hingegen geraten Stütze und Stimmbandarbeit durcheinander.

Es gilt, ansehnliche Distanzen zu „überrufen“: Von der Katze bis zum Domplatz sind 500 Meter zu bewältigen, vom Turm der Franziskanerkirche sind es auch noch stattliche 150 Meter. Dort hat übrigens der Festspielarzt selbst schon gut zwanzig Mal selbst Position bezogen. „Ich bin der dritte Reservist, wenn alle ausfallen“, lacht Josef Schlömicher-Thier. Er bringt gute Voraussetzungen mit, denn vor und während seinem Medizinstudium hat er auch Gesang studiert. Und dann lässt er selbst einen Jedermann-Ruf los: 110 Dezibel, damit ist er der zweit-mächtigste Rufer des Tages. Kompliment, Herr Doktor!

Das öffentliche Jedermann-Rufer Casting findet am 17. August ab 19.30 Uhr auf dem Domplatz statt (bei Regen leider nicht öffentlich). Bis 17 Uhr desselben Tages muss man sich anmelden, per Email an Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein! , unter Angabe von Name, Adresse und Geburtsdatum.
Zwanzig stimmmächtige Männer werden zur Jubiläumsaufführung am 22. August die Stadt beschallen.
Das Austrian Voice Institute veranstaltet alle zwei Jahre während der festspielzeit ein internationales Symposion in Salzburg, diesmal am 28./29. August im festspielhaus. Das Thema: "Künstlermedizin". - Informationen www.voicesymposium.org
Bilder: Austrian Voice Institute