Verschwundene Grenze in Europa

FESTSPIELE / DICHTER ZU GAST

05/08/10 Claudio Magris, der „Dichter zu Gast“ unterhielt sich am Mittwoch (4.8.) im Landestheater mit dem Historiker und Schriftsteller Karl Schlögel. Außer der Klugheit der beiden Männer kam zum Ausdruck, wie sensibel und genau sie Städte und Landschaften Europas porträtieren können.

Von Werner Thuswaldner

Auf der Bühne saßen Claudio Magris, der italienische „Dichter zu Gast“ aus Triest, und Karl Schlögel, exzellenter Osteuropa- und Österreich-Kenner aus Deutschland. Die beiden verbinden starke gemeinsame Interessen, und sie sind sich auch in ihrem geistigen Habitus ähnlich. Beide sind sie Wissenschaftler – Magris ist Germanist, Schlögel Historiker - und beide wollen nicht bloß Wissenschaftler, sondern auch Schriftsteller sein. Im deutschsprachigen Raum, wo das Schubladen-Denken, grassiert, ist so etwas riskant, weil einer Gefahr läuft, weder da noch dort Ernst genommen zu werden.

Magris schrieb als Neunzehnjähriger seine Dissertation „Der Habsburgische Mythos in der modernen österreichischen Literatur“. Sie ist 1963 auf Italienisch  erschienen, eine deutsche Ausgabe folgte 1969 beim Otto Müller Verlag, eine Neuauflage 2000 beim Zolnay Verlag. Unter „modern“ versteht er Literatur des ausgehenden 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in der Mehrzahl also geschrieben von Schriftstellern, die die Doppelmonarchie erlebten, bevor Österreich zu einer kleinen Republik zusammenschrumpfte.

Zuerst wollten viele im Habsburgerreich aus dem „Völkergefängnis“ ausbrechen, aber nachdem es 1918 am Ende war und sich die Nachfolgestaaten gebildet hatten, erinnerten sich manche mit Wehmut daran. Dies wies Magris anhand vieler literarischer Beispiele nach.

Magris war mitverantwortlich für einen schwärmerischen Mitteleuropa-Kult in Österreich – mit Erhard Busek als einem der Wortführer – und darüber hinaus. In der Beschwörung eines fiktiven Mitteleuropas wurde eine Möglichkeit gesehen, den Eisernen Vorhang, der den Erdteil trennte, zu eliminieren. Die Habsburger-Monarchie wurde zu einem Ideal stilisiert, das das Vereinte Europa vorweggenommen hätte. Die Absicht war klar: Mit solchen Gedanken sollte Österreichs Rolle in Europa aufgewertet werden.

Das war einer der Kernpunkte des Abends von Magris und Schlögel: Die Feststellung, dass das bedeutende Ereignis der Wende, des Falls der Berliner Mauer, nicht Ergebnis einer politischen Tat war, sondern dass sich diese Vorgänge, unabhängig davon, was Politiker wollten oder zu verhindern suchten, ereigneten. Geschichte wird nicht von Politikern gemacht, könnte man denken, sie geschieht.

Auch Magris, der vier Jahre vor der Wende sein Buch „Donau: Biographie eines Flusses“ veröffentlicht hatte, ahnte damals nichts vom dramatischen, unmittelbar bevorstehenden Geschehen, das die Welt veränderte. Das Sowjetreich brach auseinander, die Utopie von einem gerechteren Gesellschaftssystem war gescheitert.

Auch dies war ein Thema für Schlögel und Magris. Sie redeten über die Melancholie, die zu scharfer Analyse befähigt, von den verschiedenen Geschwindigkeiten, die in Ost und West geherrscht hatten und von den Verlusten, über die der angebliche Fortschritt drüber trampelt.

Magris erwies sich als Meister des Zitierens. Er hat die abendländische Literatur verinnerlicht und hat parat, was Treffendes über dies und jenes in der Vergangenheit schon gesagt worden ist.

Außer der Klugheit der beiden Männer kam auch zum Ausdruck, wie sensibel und genau sie Städte und Landschaften Europas porträtieren können. Magris zeigte es mit den Schiffswracks vor der flachen Künste von Grado, Schlögel mit Eindrücken der ehemals habsburgischen Stadt Lemberg in Galizien, die heute Lwow heißt und in der Ukraine liegt.