Oktopus und Pflegeroboter

FESTSPIELE / VERRÜCKT NACH TROST

07/08/22 Thorsten Lensing ist ausgezogen, mit seinen Bühnen-Vertrauten ein gutes Stück Leben zu erobern. Dazu gehört nun mal das Sterben. Bevor's aus ist, gieren alle nach positivem Zuspruch. Das erste Mal hat Lensing selbst einen Theatertext geschrieben. Verrückt nach Trost wurde bei den Salzburger Festspielen uraufgeführt – eine Folge von Psycho-Etüden zwischen Komik und Melancholie.

Von Reinhard Kriechbaum

Ein vorletzter Wunsch? Wenn's denn sein muss, dann bitte, bitte einen Pflegeroboter in der Gestalt und mit dem Charisma von André Jung. Dann ist jedenfalls gesichert, dass die Seele nicht leer ausgeht. Von allen denkbaren Humanoiden ist er der Menschlichste. Einen Kuss noch wünscht sich Charlotte (Ursina Lardi), die wir dreieinhalb Stunden zuvor als zehnjähriges Waisenkind kennen gelernt haben. Und diesen Kuss gibt’s tatsächlich. „Ich vergesse fast, dass Du ein Roboter bist“, sefzt sie, und er mit aufrichtigem Augenaufschlag: „Ich auch.“ Soll's bei dieser Begegnung mit sorgsam trockengetupften Lippen bleiben? Der Pflegeroboter täte schon wollen, aber mehr darf nicht sein, ihr Herz täte nicht mitspielen, sagt sie. Er drauf: „Wär's so schlimm?“ Aber wer weiß, was mit seinem elektronisches Innenleben passierte beim ultimativem

erotischen Kurzschluss.

Thorsten Lensing, ist vorallem als Roman-Dramatisierer hervorgetreten. Aus David Foster Wallaces unlesbarem Kult-Roman Unendlicher Spaß machte er ein Vier-Stunden-Bühnenepos. Für die Fragen, die ihn gerade umtreiben – die Erkundung einer urig bunt schillernden Grau-Welt zwischen Lebenswillen und Todessehnsucht, ist ihn möglicherweise keine literararische Vorlage angesprungen. Vielleicht hat er auch bloß nicht suchen wollen. Oder es ging ihm darum, seine vier Lieblingsschauspieler – Ursina Lardi, Devid Striesow, Sebastian Blomberg und André Jung – mit Steilvorlagen für ausgelassenes Spiel mit trickreichen melancholischen Sidekicks zu beschenken.

Wie auch immer: Das braucht seine Zeit, bis die Figuren einigermaßen eingeführt, ihre Charaktere entwickelt sind. In simplen szenischen Settings, die plötzlich am Surrealen anstreifen. Aber dann, nach der Pause, entwickeln sich gediegen fokussierte Dialoge, ruhig und stringent, die an Grundfragen des Mensch-Seins rühren. Das ist immer auch sehr witzig, es wird ganz viel gelacht an dem Abend, in den scheinbar tristesten Situationen. Aber dieses Lachen wird stets auch überdeckt, erstickt gar durch Nachdenklichkeit. Da sind keine aufgeplusterten Tragöden auf der Bühne, keine aufdringlichen Selbst-Bemitleider. Verrückt nach Trost sind sie samt und sonders, weil ihnen allen das Leben irgendwie um ein bis zwei Schuhnummern zu groß, zu undurchschaubar geworden ist. Unverschuldet wohlgemerkt hocken sie in ihren erst dunklen, dann nach und nach liebevoll ausgeleuchteten Seelen-Kämmerchen. Bühnenbildner Gordian Blumenthal hat nichts gemacht als eine riesige metallene Walze hinten quer über die Bühne gestellt. Wohl rennen einige vergebens an gegen das Unding, aber keine Sorge, niemand wird plattgewalzt.

Gleich zu Beginn lernen wir die Geschwister Charlotte und Felix (Ursina Lardi, Devid Striesow) kennen, zehn und elf Jahre alt. Sie schlüpfen in die Rolle der Eltern, parodieren sie auffallend liebevoll. Es stellt sich heraus, dass die Eltern tot sind. Da gewinnen das kindliche Rollenspiel („So wie Papa es bei Mama gemacht hat“), die Sehnsucht nach Liebe und Zuwendung gleich eine prägende Dimension.

Ein Taucher (Sebastian Blomberg) schneit herein. Er ist einer, der im Wortsinn abtaucht aus dem Leben. „Meine Frau hat vergessen, mich zu verlassen“, wird er einem wortgewandten Oktopus anvertrauen. Auf dessen Meinung gibt der Taucher viel, und das Tier ist nicht wortfaul. „Neun Gehirne, drei Herzen, acht Arme“, da kann man schon beitragen zum Dechiffrieren der Welt.

Ein lebhaftes Rollenspiel ist im Gange. Ursina Lardi mutiert in die Stabhochspringerin Maxima („von Maximum“, erklärt sie selbstbewusst). Ihr Haustier ist eine Schildkröte. Sebastian Blomberg hat einschlägige Bewegungsmuster mindestens so gut drauf wie Andrè Jung, der als Orang Utan eingeführt wird.

Dem unterdessen längst erwachsenen Waisenkind Felix ist ein erhebliches Beziehungsdefizit geblieben, sexuelle Erfüllung findet er auch nicht bei einem ihm immerhin geduldig zuhörenden Mann (wieder André Jung). Wir könnten nun auch von Kugelfischen und falschen Clownfischen erzählen, wir erfahren etwas über das Gefühlsleben von Kühen am Tag, da sie geschlachtet werden. Devid Striesow hat eine tolle Szene als Beschreiber unterschiedlicher Wetterlagen, die natürlich für Gefühlslagen stehen.

Und ja, die Finalszene mit der nun im Altersheim ansässigen Charlotte und ihren Pflege-Roboter! Thorsten Lensing und die vier gar wundersam flexiblen Darsteller sind genaue Menschen- und Tierbeobachter, sie liefern pantomimische Kabinettstücke. Aber dieser Roboter ist ganz Mensch, hier darf er's sein. Solch einen an der Seite zu haben – das ist der ultimative Trost. „Wir werden alle erlöst“, schreit Ursina Landi zuletzt immer und immer wieder hinaus. Das klingt wie Musik in den Ohren des Publikums, das keineswegs umsonst einen alles andere denn kurzen Theaterabend im Max Schlereth Saal der Universität Mozarteum durchgesessen ist. Ein eher leises Wundertheater zwischen Alltag und Überhöhung, zwischen gut situiertem Situations- und Dialog-Witz und melancholischen Abstürzen. Eine liebenswürdige Schein-Burleske.

Aufführungen bis 17. August im Max Schlereth Saal der UniversitätMozarteum – www.salzburgerfestspiele.at
Bilder: Salzburger Festspiele / Armin Smailovic