Katĕrinas Seele ist ein weites Land

FESTSPIELE / KÁŤA KABANOVÁ

08/08/22 Alexander Ostrowski hat das Schauspiel Gewitter, auf dem die Oper Káťa Kabanová fußt, 1869 geschrieben, also vierzig Jahre vor Schnitzlers Das weite Land. Aber Leoš Janáček komponierte zehn Jahre später, und da hat er (als sein eigener Librettist) die Freud'sche Tiefenpsychologie über die seelische Unerfülltheit in den Noten noch deutlich nachgeschärft.

Von Reinhard Kriechbaum

Ostrowski hatte das Psycho-Gefängnis, in dem die Figuren dieser fatalen Geschichte festsitzen, noch eher instinktiv erfasst. Katĕrina ( Káťa) ist die Frau des dem Suff zuneigenden, aber sie durchaus liebenden Kaufmanns Tichon Kabanov, dauer-drangsaliert von der Schwiegermutter Marfa Kabanicha. Die junge Frau, lebenshungrig, verkümmert in der familiären Enge und in einer dörflichen Gemeinschaft, die Regisseur Barrie Kosky und sein Bühnenbildner Rufus Didwiszus in der Felsenreitschule konsequent wegsehen lässt: Die gut zweihundert Figurinen, wie die Protagonisten von Victoria Behr in heutige Alltagskleidung gesteckt, sind und bleiben das einzige Gestaltungselement auf der Riesenbühne. Diese regungslose Puppen-Gesellschaft schaut intensiv weg. Trotz gefährlicher Masse lässt sie unendlich viel Platz, den man aber beim besten Willen nicht „Freiraum“ nennen kann, so leer er ist: Dort entlädt sich Káťa Kabanovás aufgestaute Spannung, indem sie immer wieder wie gehetzt losläuft – und doch nur an den steinernen Wänden der Felsenreitschule aufklatscht. Und eben so oft steht sie mutterseelenallein in ihrer Verzeiflung am Rand des Orchestergrabens, als ob sie sich sogleich in diesen stürzen wollte. Es wird dann die Wolga sein...

Was Barrie Kosky da in eindreiviertel Stunden ohne auch nur ein einziges Ausstattungsstück zeigt, könnte man als Verheutigung der Ästhetik von Sergej Eisenstein lesen. Klaustrophobie und Agoraphobie zugleich, beides ein Ergebnis einer gesellschaftlichen Versteinerung. Welch anderem Raum könnte man das so einschreiben wie der Felsenreitschule?

Es ist ein Casting, das sich in dieser Konsequenz ausschließlich die Festspiele leisten können. Wo findet man eine Sängerin, die sich einen Abend lang so souverän und eindrücklich durch ihren Part arbeitet, die alle Kraftreserven mitbringt, die mühelos auch im Piano über das Orchester kommt und zugleich sensationell wortdeutlich artikuliert – und die zugleich so zart, so zerbrechlich aussieht wie die Amerikanerin Corinne Winters, über die man nichts anderes sagen will als: Sie ist schlicht eine Idealbesetzung, was die musikalische Rollengestaltung anlangt. Und sie entspricht von Typ her haargenau der Intention des Regisseurs, der zeigen will, wie da ein Mensch zermahlen wird von seinem Umfeld. Vielleicht ist Káťa als Mädchen nicht nur mit Begeisterung in die Kirche gegangen, wie sie anfangs von sich erzählt, vielleicht hat sie auch gemodelt. Jedenfalls: Die Enge im Hause Kabanov, wo sich die Alte aufführt wie eine Bernarda Alba à la Federico García Lorca: Wie soll Káťa das aushalten?

Auch die einzige Vertraute der Káťa, Varvara, ist eine intensive Sängerin mit Model-Figur: Jarmila Balážová, mit höhen-strahlendem, leicht ansprechendem Mezzo. Sie tändelt, wo Káťa wie ein gehetztes Tier über die Bühne rast, aufgerieben zwischen Pflichtbewusstsein, gesellschaftlicher Konvention und nur mit Mühe in Zaum gehaltenem Trotz. Evelyn Herlitzius als Schwiegermutter Kabanicha – gar nicht alt und drum doppelt gefährlich wirkend – ist die einzige, die etwas in Händen hält. Mit ihrem Stock fuchtelt sie nicht nur herum, sie schlägt auch zu. Handverlesen in der Erscheinung auch Jaroslav Březina als Tichon: Er steht unter der Fuchtel seiner Mutter. Wäre da nicht deren latente Bosheit und Hetze, vielleicht würde er sogar den Flachmann beiseite legen und wäre dann wohl der gutmütigste Ehemann von allen. Auch er ist ein Gefangener im eigenen Haus.

David Butt Philip als Boris – für diese anschmiegsame Tenorstimme, beispiellos ausgeglichen und ohne jede Mühe Schmelz verströmend in allen Lagen, könnte man als Sopran ja tatsächlich jeden Bass-Ehemann sitzen lassen. Wenn er die Frau beim vollen Namen nennt – Katěrina Petrovna – hat er schon gewonnen.

Handverlesen auch die kleineren Rollen. Was sie alle zum Ensemble zusammenschweißt: Die wenigsten sind Native speakers, aber es steckt offenkundig eine geradezu pingelig sprachliche und auch kapellmeisterliche Vorbereitungsarbeit in dieser Modellaufführung, die man gerade ob dieser Ensembletugenden nicht hoch genug einschätzen kann.

Übersehen wird in unserem Musikbetrieb, der beständig eine überschaubare Zahl von Pult-Großmeistern in alle Weltgegenden durch die Lüfte jagt, dass der Begriff Native speaker ja auch für Dirigenten ein Thema sein kann. Jakub Hrůša ist im tschechischen Brünn geboren, dem einstigen Lebensmittelpunkt von Leoš Janáček. Dessen musikalisches Idiom hat dieser Musiker gleichsam in Fleisch und Blut. Wenn am Premierenabend besonderer Beifall auch für die Wiener Philharmoniker aufrauschte, dann ist das zu nicht geringem Teil dem Dirigenten geschuldet, der vor allem das Melos dieser Partitur unvergleichlich differenziert umsetzen lässt.

Freilich, der Geschichte eignet viel Dramatik, die sagenhafte Härte und Unentrinnbarkeit dieser fatalen Familienaufstellung steckt in den Noten. Aber genau so wichtig, wenn nicht entscheidender ist der differenzierte Blick auf die Sehnsüchte, die Unerfülltheit der Handelnden. Sie äußern sich in einem Melos, das so treffsicher wie durch Jakub Hrůša erst aufgeschlüsselt sein will. Katěrina und Varvara, die lebens-begierigen jungen Frauen in dieser seelen-verhärteten Gesellschaft drängt es immer wieder zum Schwärmen, zum Träumen, und eben so oft zum Tändeln. Da hat der Dirigent in den Wiener Philharmonikern Instrumentalisten, denen das tschechische Idiom auch ur-vertraut ist. Wollte man die Orchesterleisterleistung an diesem Abend mit einem pauschalen Begriff umschreiben: Das klingt authentisch wie nur.

So sehr diese Produktion vom tschechischen Sprach-Melos lebt, vokal und instrumental: Auf der Szene bleibt slawischer Folklorismus konsequent ausgeblendet. Der Schlüssel fürs Gartentor, der Stock der Schwiegermutter, eine Aktentasche für Kabanov, der auf Geschäftsreise geht – es ist wirklich minimalistisch, wie Regisseur Barrie Kosky arbeitet. Allein mit den darstellerischen Mitteln dieser präzis angeleiteten Singschauspieler erzählt der Australier eine nicht nur heutige, sondern durch und durch zeitlose Geschichte.

Die tumbe Masse der wegschauenden Figurinen hat an sich schon etwas Niederschmetterndes. Stark, was dieser leblosen Kraft in der Personenzeichnung entgegengesetzt wird. Verblüffend schlicht, geradlinig und gerade deshalb aufrüttelnd das Ende. Eine kleine Klappe im Boden wird geöffnet, dort hinein stürzt sich die an sich und am Leben Verzweifelte. Die Schwiegermutter wird ihr Kleid mit dem Stock herausfischen. Das Herz möchte einem stehen bleiben.

Aufführungen bis 29. August in der Felsenreitschule – Im Hörfunk am 13. August um 19.30 Uhr in Ö1 – Szenisch am 15. August um 11.05 in ORF2 und am 20. August um 20.15 Uhr in 3sat – www.salzburgerfestspiele.at
Bilder: Salzburger Festspiele / Monika Rittershaus