Iphigenies heutige Probleme und Aussichten

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16/08/22 „Ich versuche, mich auf eine eigene kreative Reise zu begeben“, sagt Ewelina Marciniak über ihren Weg, sich klassische Theaterstoffe oder auch solche der Gegenwartsdramatik anzueignen. Mit Iphigenia gibt die polnische Regisseurin ihr Regie-Debüt in Salzburg, auf der Pernerinsel.

„Auch aus archetypischen Stoffen lassen sich zeitgemäße Geschichten erzählen, man kann sie neu interpretieren. Wir finden darin gewisse Klischees und Muster“, hat Ewelina Marciniak wie schon viele andere vor ihr entdeckt. „Ich lasse mich von dem leiten, was mich umgibt. Ich beobachte Menschen um mich herum und die vielfältigen politischen Situationen. Mir ist immer auch die weibliche Perspektive und die Auseinandersetzung mit denjenigen wichtig, die von der Gesellschaft ausgeschlossen sind. Dabei greife ich gerne auf einen historischen Kontext zurück, um diesen mit der Gegenwart zu kombinieren. Das macht es dann auch einfacher fürs Publikum.“

Wie sie Iphigenia aus heutiger Perspektive – nach zahlreichen berühmten Überschreibungen, etwa durch Goethe, Racine oder Hauptmann – erzählt, beschreibt Marciniak so: „Ein zentrales Element ist die Erfahrung, das eigene Leben zu verlieren. Ausgehend von den Figuren bei Euripides, etwa davon, dass Agamemnon seine eigene Tochter opfert, könne sie sich mit realen Problemen auseinandersetzen, wie beispielsweise Konflikten im Vater-Tochter-Verhältnis. Wir haben es hier mit einer Familiengeschichte und darin vorkommenden Tabus zu tun. In einer reichen aristokratischen Familie wird die Tochter vom Bruder des Vaters, in diesem Fall Menelaos, missbraucht. Agamemnon schafft es nicht, für Werte wie Würde und Ehre einzustehen. Um des Prestiges willen sieht er keinen anderen Ausweg, als die eigene Tochter zu opfern. Er handelt sehr egoistisch, Iphigenia soll ihre Karriere opfern und fühlt sich von ihrem Vater, von ihrer ganzen Familie betrogen.“

Káťa Kabanová, Il trittico oder Reigen – in einigen Stücken dieses Festspielsommers sind weibliche Hauptfiguren zum Schweigen verdammt um dem System zu genügen. „Die Wahrheit wird geopfert, es ist verboten, Schmerzen zum Ausdruck zu bringen“, erklärt Ewelina Marciniak dazu.

„Es geht aber nicht nur um Schweigen, sondern auch um die Folgen: Was passiert, nachdem Iphigenia ihre Familie verlassen hat?“ Deshalb habe sie die Figur geteilt, um den Kontrast zwischen einer jungen und einer älteren Iphigenia zu schaffen, für die sich die Frage stellt: „Kann sie die Traumata der Vergangenheit bewältigen? Gibt es für sie die Möglichkeit eines Neuanfangs?“ Sie sei in dieser Hinsicht auch Rosa und Oda Thormeyer sehr dankbar, die als Mutter und Tochter die Rolle verkörperten.

Mit Rosa Thormeyer hat sie schon im Sommernachtstraum zusammengearbeitet. Das war Anfang2018 im Theater Freiburg, ihr Regie-Debüt in Deutschland. In der Spielzeit 2019/20 arbeitete Ewelina Marciniak zum ersten Mal am Hamburger Thalia Theater, mit dem die Festspiele nun auch für Iphigenia kooperieren. Der Boxer nach dem Roman von Szeczepan Twardoch wurde mit dem Theaterpreis DER FAUST 2020 ausgezeichnet. Es folgte die Adaption von Die Jakobsbücher der Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk ebenfalls im Thalia Theater. Für ihre Interpretation der Jungfrau von Orleans (Nationaltheater Mannheim) wurde Ewelina Marciniak zum Berliner Theatertreffen 2022 eingeladen.

Ist es ein Unterschied, ob sie in ihrer polnischen Heimat oder in Deutschland arbeitet? „Ich glaube, dass die Veränderungen, die in beiden Ländern vorgehen, die gleichen sind. Die Künstlerinnen und Künstler wissen überall, worum es geht. Wichtig ist für mich immer der politische Kontext“. In Polen habe sie zunächst mit kleineren Aufführungen begonnen und dabei auch improvisatorische Elemente wie Choreographie und Musik eingebaut. „Das kam beim Publikum und bei den Kritikern gut an“, sagt sie. Generell sei die Frage nach Unterschieden aber schwer zu beantworten.

Musik und Choreographie sind in ihren Inszenierungen wesenhaft. „Das ist nicht tänzerischer, sondern körperlicher Ausdruck, der real und authentisch wirkt.“ Das Publikum nehme das auf sinnliche Weise wahr. (PSF/dpk)

Iphighenia, frei nach Euripides und Goethe, wird am 18. August auf der Perner Insel in Hallein uraufgeführt. Weitere Vorstellungen am 19., 21., 23., 24., 26., 27. und 28. August – www.salzburgerfestspiele.at  
Bilder: Salzburger Festspiele / Franz Neumayr (2); Krafft Angerer (2)