Beißende Ironie und weite slawische Seele

FESTSPIELE / RSO / JOEL SANDELSON

19/08/22 Im Vorjahr hat er den Herbert von Karajan Young Conductors Award gewonnen, nun debütierte er am Donnerstag (18.8.) mit dem ORF Radio-Symphonieorchester Wien in der Felsenreitschule. Der 28jährige Brite Joel Sandelson bewies mit einem fordernden russischen Programm, dass er ein würdiger Preisträger ist.

Von Gottfried Franz Kasparek

Gerade in dieser Zeit ist es wichtig, auch große russische Musik zu spielen, Musik, die längst zum kulturellen Welterbe gehört. Jegliche künstlerische Sippenhaftung ist abzulehnen. Zumal Sergej Rachmaninow und Dmitri Schostakowitsch in ihrer Heimat selbst unter einem totalitären Regime litten. Der ältere Rachmaninow emigrierte, der jüngere „Staatskünstler“ protestierte mit seinen Werken unüberhörbar gegen das stalinistische System. Sein Erstes Cellokonzert, entstanden 1959 für Mstislaw Rostropowitsch, enthält keinerlei Parteitagsjubel, nicht einmal doppelbödigen. Der laut Komponist „spaßhafte“ Marsch zu Beginn ist eindeutig eine Parodie eines solchen und wirkt in der Tat gespenstisch. In der etwas liberaleren Ära nach Stalins Tod war diese Gratwanderung zwischen „sozialistischem Realismus“ und innerer Distanz auch in der sowjetischen Öffentlichkeit eine Zeit lang möglich.

Der junge spanische Cellist Pablo Ferrández begeisterte von den ersten Takten an mit ebenso energischem wie gefühlvollem Spiel. Technisch perfekt, spürte er der klingenden Rhetorik des Kopfsatzes insistierend nach und durchlebte die folgende Einheit von drei Sätzen in einem mit Hingabe, oft im Dialog mit dem hervorragenden Solohornisten und mitatmend begleitet vom Dirigenten. Der zweite Satz zählt ja zum Berührendsten, was an langsamen Sätzen in Instrumentalkonzerten jemals komponiert worden ist. Die dunkle Wehmut russischer Volksweisen verbindet sich hier mit der Strenge einer Sarabande. In der pausenlos folgenden, grüblerischen Cadenza ließ sich Pablo Ferrández sehr viel Zeit, ohne deshalb den Spannungsbogen zu verlieren. Die virtuos getarnte beißende Satire des Finales sorgte für verdienten Jubel des Publikums, der mit einem truernden Cellosolo aus der Feder Pablo Casals' bedankt wurde. Der katalanische Musiker, eigentlich Pau Casals, wurde 1936 von Faschismus und Bürgerkrieg aus seiner Heimat vertrieben. Muss alles immer wiederkehren?

Nach der Pause koordinierte Joel Sandelson die von Rachmaninov für seine Zweite Symphonie verlangte große Besetzung nicht bloß mit großem schlagtechnischem Können, er gestaltete diese fast einstündige Wanderung eines, hört man etwas hinter die rauchhaften Klangwogen, meisterhaft variierten, im Grunde schlichten Themas durch oft extreme emotionale Welten, in sich stimmig und überwältigend farbenreich. Großartig, wie er aus dem Strom der schönen melancholischen Töne doch immer wieder glühende Dramatik herausmeißelte, im düster grundierten Scherzosatz und im Finale, dessen vermeintlich oberflächlich lärmendes Pathos eine Brücke zur knalligen Ironie bei Schostakowitsch schlug. Das RSO Wien, sichtbar von seinem Leiter eingenommen, zählt in dieser Form zur Weltklasse. Glänzende Soli der Bläser verbanden sich mit einem wahrlich von slawischer Seele durchpulsten, innigen, samtenen Streicherklang bester Wiener Schule. Großer Applaus!

Im Hörfunk am 27. August um 15.05 Uhr in Ö1
Bilder: Salzburger Festspiele / Marco Borrelli