Achtzig Minuten Wagner, zwei Minuten Liszt

FESTSPIELE / IGOR LEVIT

25/08/22 Vielleicht sollte das in Serie gehen: Das Tristan-Vorspiel in einer Klavier-Transkription, quasi als Einleitung zur h-Moll-Sonate von Franz Liszt. Ohne Pause ließ Igor Levit in seinem Festspiel-Solistenkonzert am Mittwoch (24.8.) das eine Stück ins andere gleiten.

Von Reinhard Kriechbaum

Levit ist ein präziser Analytiker, und als solcher schafft er erst mal Ordnung in der Liszt-Sonate, die ihm in solcher Stringenz, aber auch in solcher Ausgewogenheit aus packendem Zugriff und feinem Lineament derzeit vermutlich keiner so nachspielt. Das erste Thema, das so oft auftaucht, kommt in Wirklichkeit ja nie unverändert daher – Levit sucht und findet für jede dieser Varianten je eigene Timbres. Dieses Motiv kann vorlaut herausknallen, dass man an einen Peitschenhieb denkt. Es kann sich aber – nach dem langen „Quasi Adagio“-Abschnitt, an dessen Ende Levit (freilich nur scheinbar!) tastende Ratlosigkeit suggeriert – auch wie durch eine Nebentür einschleichen. Unaufdringlich und doch sprungbereit, um dann umso nachdrücklicher die ihm innewohnende Option auch für polyphone Verarbeitung zu bestätigen. Insgesamt hat diese Interpretation auch durch ganz außerordentliche gesangliche Eigenschaften für sich eingenommen.

Igor Levit bescherte also seinen Zuhörern, die für ein Solistenkonzert im Großen Festspielhaus bemerkenswert gebannt wirkten, ein Liszt-Erlebnis besonderer Art, herausentwickelt eben aus dem Tristan-Vorspiel in einer Klavierfassung von Zoltán Kocsis. Da geht nichts verloren, ganz im Gegenteil: Das harmonische Nirwana des legendären Akkords wird in der pianistischen Rohform ja noch deutlicher greifbar. Dieses Vorspiel als ein großes An- und Abflauen, für das Igor Levit in der Liszt-Sonate einige Entsprechungen auftut. Wenn er die Sonate „Lento assai“, fast übertrieben stockend ausklingen lässt, wünschte man sich beinahe ein da capo, dass nämlich nochmal der Tristan-Akkord die Sache abrunde. – „Achtzig Minuten Wagner, zwei Minuten Liszt“, knurrte ein älterer Besucher beim Hinausgehen. Er hat's tadelnd gemeint, aber die Sache wohl gut eingeschätzt.

Eine außergewöhnliche Werk-Paarung vor der Pause: Béla Bartók hat Mitte der 1920er Jahre unter dem Titel Im Freien fünf Klavierstücke veröffentlicht, scheinbar idyllische Charakterstücke, in Wahrheit ein pianistischer Befreiungsschlag gegen alle Romantizismen. Da tuscht die linke Hand im „pesante“ überschriebenen ersten Stück – Mit Trommeln und Pfeifen – nieder, dass man zusammenzuckt. Im Satz Musettes bahnt sich Motorik Bahn, lavierend zwischen archaisch und „verspielt“. Denkbar größter Unterschied zu den darauf folgenden Klängen der Nacht, einem assoziations-offenes Irrlichtern: schlaflos in Budapest! Und dann die abschließende Hetzjagd. Die taugte zu einem Rätselspiel mit geschlossenen Augen: Wirklich nur zehn Finger, oder ist plötzlich ein Klavierduo am Werk? Wuchtig und rabiat schichten sich Läufe und Akkorde, mit diesem fulminanten Techniker eine Grenzerfahrung beinahe.

Aber dann gab sich Levit als gefühls-kontrollierter Lyriker, in Schumanns Waldszenen. Die entstanden 1849, da war deutscher Tann noch Mischwald, und es vegetierten noch nicht Fichten-Monokulturen in einer erwärmten Welt vor sich hin. Da war noch gut Vogel als Prophet (die Nummer sieben) sein. Ein gefiederter Freund, vielleicht sogar für die Briefwage zu leicht: So duftig, dabei unverzärtelt und auch hier mit unverstelltem analytischen Blick auf die Poesie weiß Igor Levit das zu gestalten.

Bilder: Salzburger Festspiele / Marco Borrelli