Wieder mal die Traummännlein-Variationen!

FESTSPIELE / BERLINER PHILHARMONIKER (1)

28/08/23 Es gibt Moden, auch was das vermeintlich kanonisierte symphonische Repertoire anlangt. In den 1960er und 1970er Jahren waren Max Regers Variationen und Fuge über ein Thema von Mozart op. 132 noch ein beliebtes Repertoirestück. Kaum ein Jahr, in dem es nicht in irgendeinem Abo-Programm auftauchte.

Von Reinhard Kriechbaum

„Traummännlein-Variationen“ witzelten wir damals, weil Reger jenes berühmte Thema aus der A-Dur-Klaviersonate hergenommen hatte, das auch zur Untermalung eines täglich im Fernsehen ausgestrahlten Kinder-Trickfilmchens diente: Das Traummännlein ist da!

Unterdessen ist dieses Werk völlig entschwunden. Es ist gefühlte Jahrzehnte her, dass man es zuletzt in Salzburg aufgeführt hat. Warum das so ist? Max Regers harmonisch überladene Tonsprache, verbunden mit etwas altväterlich anmutender Handwerklichkeit, ist uns fremd geworden. Wenn schon Üppigkeit des Fin de siècle, gehen wir ja lieber zum Schmied und nicht zum Schmiedl. Also zu Richard Strauss oder Mahler und nicht zu Reger, Pfitzner und Konsorten.

Das ist ein bisserl ungerecht, wie sich sich im ersten Festspielkonzert der Berliner Philharmoniker unter Kirill Petrenko am Sonntag (27.8.) bestätigte. Petrenko ist der rechte Musiker für dieses Stück – einer, der auf höchste Lichtheit im Orchester abzielt, der aber zugleich der klar tönenden Klang-Analyse betörende Romantizismen einzuschreiben versteht. Wie er schon das Thema, pendelnd zwischen Holzbläsern und Streichern, mit Wehmut auflädt, wie eine samtweiche Erinnerung an längst vergangene Zeiten...

Es ist ja eigentlich eine absurde Vorstellung, dass sich Max Reger, dieser Harmonie-Verüppiger von Gnaden, ausgerechnet nach Mozart'scher Klarheit sehnte. An diesem Abend wurde herausgeschält, was er darunter verstanden haben könnte. Höchst einprägsam also, wie Petrenko und die Berliner Philharmoniker die erstaunlichen Mutationen dieses Themas herausstellten, das zuerst ein paar Mal eher klassisch „umspült“ wird von kontrastierenden Stimmen, aber alsbald seine wiegende Sechsachtel-Lieblichkeit ablegt. Blech-schwanger als schneidiger Marsch daher kommt oder – Endpunkt in der achten Variation – sich in der Schwüle der Jahrhundertwende-Endzeit räkelt.

Und schließlich die Fuge. Petrenko lässt die Streicher tonlich super-fein, so pikant wie seidig loslegen.Mit jedem Einsatz eines neuen Blasinstruments oder eine Instrumentengruppe lässt er je eigenes Charisma entfalten, so dass diese Fuge in sich letztlich so mosaikhaft-differenziert wirkt, als ob Reger hier all seine Variationskunst noch einmal quasi lexikalisch habe vorstellen wollen. Ein sinnlicher Genuss.

Hat das dann zu Richard Strauss Ein Heldenleben gepasst? Kirill Petrenko treibt auch dieser Tondichtung alle Üppigkeit aus, sucht und findet beinah kammermusikalische Finessen, die er als mit dieser Musik innigst vertrauter nachgestaltender Interpret zu einer einnehmenden Gesamterzählung formt. Man konnte sich das Schmunzeln nicht verkneifen, als die Konzertmeisterin Vineta Sareika-Völkner das Geigensolo, das nach des Komponisten Selbstaussage seine Frau porträtiert, mit allen Finessen nachzeichnete. Da ist ja von „heuchlerisch schmachtend“ über „leichtfertig“, „zart, etwas sentimental“ bis „keifend“ allerlei beschrieben, was heutiger Wokeness zuwiderläuft. Ein „Held“ der damit fertig wird, für den sind seine Holzbläser-Widersacher vermutlich ein Kinderspiel.

Eine sprechende, assoziationsreiche Wiedergabe jedenfalls, die sehr gezielt auch die lyrischen Episoden ausgebreitet und ausgekostet hat. Kein aufdringlicher Protzer, ein sehr menschlicher Held.

Bilder: Salzburger Festspiele / Marco Borrelli