Das Wort Stress kennt er nicht

FESTSPIELE / SOLISTENKONZERT POLLINI

25/08/11 Wenn Beethovens Klaviersonaten für die Pianistenzunft eine Art Bibel sind, dann muss man gerechterweise sagen: Auch in der Bibel werden nicht alle Seiten oft und regelmäßig aufgeschlagen. Es gibt auch vergleichsweise unbekannte Stories.

Von Reinhard Kriechbaum

altEine dieser unbekannten Stories in Beethovens Sonatenkanon ist zum Beispiel die F-Dur-Sonate op. 54. Viel lieber greifen Pianisten zu den benachbarten Stücken, der Waldstein-Sonate oder gar zur Appassionata. Maurizio Pollini hat in der Zusammenschau dieser drei (und eines vierten Werks, der Fis-Dur-Sonate op. 78) gezeigt, wie vielgestaltig Beethovens Kosmos damals war, in den Jahren 1804/05.

Die F-Dur-Sonate also. Eine geradezu barocke Reminiszenz, wenn man will, die klassische Paraphrase auf die Tokkata. Es geht rasant dahin. Maurizio Pollini, der kühle Analytiker, nähert sich nüchtern und lässt in beiden Sätzen die Noten so recht dahin laufen. So etwas wirkt beinahe anachronistisch in Zeiten wie unseren, da die „Redner“ hoch im Kurs stehen. Was man sich also durchaus gewünscht hätte: ein paar Interpunktionen. Es müssten ja eh keine Rufzeichen sein, aber wenigstens ein paar Beistriche und dann und wann ein Punkt.

Freilich: Hektik, Stress sind Wörter, die Pollini bei aller Flinkheit nicht kennt. Sogar die drängenden Bässe im Allegro con Brio-Satz der Waldstein-Sonate (C-Dur op. 53) lässt er un-vorlaut wachsen, und das ermöglicht ihm fließende, aquarellartige Übergänge zu lyrischen Motiven und weich-leise angesetzten Läufen. Ein sehr gesanglicher Zugang zu diesem Stück in Summe, in dem der langsame Satz zu einem Lehrstück im Maßhalten wurde. Denkbar moderat hat sich das Rondo-Thema gelöst, die Tempovorschrift wurde buchstabengetreu eingehalten.

Der Keim zur Langeweile freilich ist in einer solchen Werksicht durchaus gesät und kann auch aufgehen. Der Variationensatz der „Appassionata“ (f-Moll op. 78) ward nicht minder besonnen, mit klassischem Ebenmaß angegangen. Letztlich hatte das große Überzeugungskraft, denn in den Rahmenteilen fehlte dieser Appassionata nicht der entschiedene Zugriff. Pollini ist kein ganz alter, aber halt doch schon ein älterer Herr. Da kommt die Leidenschaft nicht mehr ganz so unvermittelt, aber sie glüht fühlbar nach.

Bild: SFS / Wolfgang Lienbacher