Musikalische Verführung auf Hochtouren

FESTSPIELE / WIENER PHILHARMONIKER / MARISS JANSONS

05/08/12 Wie schwierig es wirklich war, nach Beethoven eine Symphonie zu schreiben? Als Hörer macht man sich heute kaum Gedanken drüber, dass Brahms’ „Erste“ (sieht man von den Werken Mendelssohns und Schumanns ab) eigentlich der erste gewichtige Beitrag nach Schubert, also nach einem halben Jahrhundert war.

Von Reinhard Kriechbaum

Über dieses – zumindest aus österreichischer Perspektive – musikhistorische Faktum und über Brahms’ sich ob der historischen Vorbelastung eher mühsam entwickelndes „Langzeitprojekt Symphonie“ liest man gelegentlich. Aber wann bekommt man diesen symphonischen Gärprozess hörend mit? Die Wiedergabe in der zweiten Philharmoniker-Matinee dieser Festspiele (4./5.8. im Großen Festspielhaus) war dazu angetan, sehr genau hineinhören zu lassen in tiefere Schichten. Was hat Brahms da doch für eine Aufsehen erregende „Überschrift“ vorangesetzt in Form der langsamen Einleitung mit ihren markant insistierenden Pauken-Schlägen, die dann von den Pizzicati der Streicher milder, aber nicht weniger hartnäckig fortgeführt werden. So meldet man sich selbstbewusst an für die vorderen Ränge der Musikgeschichte! Mariss Jansons ist ein verlässlicher Musik-Dramaturg, wenn es um solche Botschaften geht.

Es war, so schien es jedenfalls, auch für die Wiener Philharmoniker anregend, sich auf diese eigenständige Werksicht einzulassen. Einnehmend etwa, wie sorgsam Jansons hinsteuern lässt auf das ruhige Ausklingen des Eröffnungssatzes, das deshalb so unverdächtig idyllisch sein darf, weil zuvor aufs Gründlichste alle (wirklich alle!) Spannungen und Verknotungen aufgelöst wurden.

Jansons überlässt den Klang eben nicht dem Zufall. Wenn sich im Adagiosatz die Solovioline gegen Ende meldet, dann zuerst nur als würzende Zutat zum hornschwangeren Tuttiklang. Erst ganz am Ende hat sie und gebührt ihr wirklich das erste Wort.

In den machtvoll zelebrierten Pizzicato-Anläufen in den Finalsatz hinein bekommt man in der Lesart von Mariss Jansons sehr deutlich vor Ohren geführt, dass Musiktheater damals eben nicht nur beim Antipoden Wagner auf dem Grünen Hügel stattfand. Und wie nebenbei: Wenn die Posaunen bald drauf zu ihrem Choral anheben, ist das bei Jansons auch ein starker Querverweis, dass Blech nicht zwingend so klingen muss wie beim bekennenden Wiener Wagner-Gläubigen Bruckner.

Brahms’ Erste Symphonie also wie neu gelesen. Das will schon etwas heißen bei einem so vertrauten Stück. Zuvor hatte Nina Stemme, die schwedische Ausnahme-Sopranistin mit der schier grenzenlos sich auffaltenden tiefen Lage, Wagners Wesdendonck-Lieder gesungen: ungemein präzis in der Diktion, deshalb Wort für Wort verständlich. Und so bewusst in der Gestaltung, dass man an intimen Liedgesang hat denken können. Kein Wunder aber, waren doch die Streicher von Mariss Jansons zu Artikulations-Delikatesse sondergleichen angehalten. Da ging das Volumen der Instrumentierung von Felix Mottl kaum einmal übers Mezzoforte hinaus.

Begonnen hatte die Matinee deutlich spektakulärer, denn in Richard Strauss’ „Don Juan“ ließ uns Mariss Jansons erstaunliche Schlüsselloch-Blicke in die Schlafzimmer des manischen Herzensbrechers machen: jedenfalls Lyrismen sonder Zahl, aufs Plastischste herausgeschält und von den Philharmonikern mit einnehmender Brillanz und Geschmeidigkeit umgesetzt. So also geht musikalische Verführung auf Hochtouren!

Wie so viele Festspielkonzerte heuer wurde auch dieses in Bild und Ton aufgezeichnet. Ausstrahlung am kommenden Samstag (11.8.) um 20.15 Uhr auf 3sat.
Bilder: SF / Silvia Lelli