Die Vollkommenheit ist ohne Klage

FESTSPIELE / ENSEMBLE CONTRECHAMPS / HOLLIGER

06/08/12 „Die ganzen zweieinhalb Stunden lang nur ein Stück? Kein anderer Komponist?“ Die Dame, die mir nach etwa einer Stunde Spielzeit von hinten über die Schulter flüstert, wirkt betroffen. Heinz Holligers „Scardanelli-Zyklus“ für Solo-Flöte, kleines Orchester und gemischten Chor  ist tatsächlich mehr als abendfüllend.

Von Heidemarie Klabacher

Der schillernde Chorklang zieht Klangfäden aus Stahl durch die Kollegienkirche. Man könnte die Akustikdecke aufhängen an diesen ebenso feinen wie erbarmungslos tragfähigen Linien. Reine Quinten werden aufgebaut, sie wirken zerbrechlich, sind aber fest wie Säulen aus Glas. Dur-Dreiklänge, vertraut wie aus dem Volkslied und doch fremd und trostlos, scheinen sich  immer wieder umzukehren und neu übereinander zu stapeln – bis sie in flirrenden Obertonklängen entschweben…

Entstanden ist der ebenso intovertierte wie opulente „Scardanelli–Zyklus“ von Heinz Holliger im Kern zwischen 1975 und 1985, insgesamt hat er aber fast zwanzig Jahre daran gearbeitet. Heute hat das Werk eine „mobile Form“. Das heißt, Auswahl und Abfolge der einzelnen Teile können von Aufführung zu Aufführung variieren. Das Ensemble Contrechamps, der Latvian Radio Choir und der Flötist Felix Renggli haben unter der Leitung des Komponisten einen staunenswert eindringlichen und eindrücklichen Marathon der Einsamkeit und Verlorenheit hingelegt.

Wer war überhaupt Scardanelli? Mit diesem Namen hat der geistig umnachtete Dichter Friedrich Hölderlin (1770 bis 1843) zahlreiche Gedichte gezeichnet. 1806 ist Hölderlin in psychiatrische „Behandlung“ gekommen und muss unter unmenschlichen Behandlungsmethoden die Hölle erlebt haben. Nach etwa einem dreiviertel Jahr wurde er als unheilbar geisteskrank entlassen – und lebte noch 36 Jahre lang in einem Turmzimmer im Hause eines Bewunderers. Hölderlin erholte sich ein wenig und begann wieder zu schreiben. Die Datumsangaben unter den Gedichten von Scardanelli alias Hölderlin reichen von 1648 bis 1940. Ein aus der Zeit Gefallener eben.

Der Erde Stund ist sichtbar von dem Himmel
Den ganzen Tag, in heller Nacht umgeben,
Wenn hoch erscheint von Sternen das Gewimmel,
und geistiger das weit gedehnte Leben.

Die Jahrszeiten-Gedichte Hölderlins, die der Komposition zugrunde liegen, sind singuläre Kunstwerke von größter Anschaulichkeit und größter Sparsamkeit der Mittel. Auch wenn er von „Natur“ zu erzählen scheint, ist dieser Dichter der Naturlyrik der Romantik um Aonen voraus, ein ganz und gar moderner Autor, der in Naturbildern von der Seele spricht. Immer wieder versteht man in Holligers Komposition den wortdeutlich gesungenen Text (Hut ab vor dem Chor aus Lettland!), oft aber lösen sich die Worte im Klang auf.

Der Erde Rund mit Felsen ausgezieret
Ist wie die Wolke nicht, die Abends sich verlieret
Es zeiget sich mit einem goldnen Tag,
Und die Vollkommenheit ist ohne Klage

So heißt es in einem der Herbstgedichte. Musikalisch war diese große Klage in der Kollegienkirche brillant, rundum überzeugend: Der Latvian Radio Choir, einstudiert von Kaspars Putnins, faszinierte mit seinem klaren und eben doch so soliden Chorklang, der noch mit feinsten Piano die Gewölbe erfüllte. Heinz Holliger ließ mit größter Präzision die Klangflächen und Klanglinien sich aufbauen und wieder im Nichts versinken. Wenn der Chor plötzlich einen Choral zu singen scheint, wirkten die Klänge des Ensemble Contrechamps – bei aller Zartheit – wie die Gitterstäbe eines Gefängnisses: unüberwindliche Barrieren, die vom Leben trennen. Es ist zwar alles sehr schön bei Heinz Holliger, der mit geradezu „romantischen“ Klängen und „klassischem“ Tonmaterial arbeitet. Gelegentliche Luft- und Atemgeräusche sind auch schon das Radikalste. Dennoch spricht sein Scardanelli-Zyklus von der beängstigende Leere einer Seele. Hölderlins tragisches Schicksal steht in Holligers Interpretation durchaus für die Zerrissenheit und Gefährdetheit auch des modernen Menschen.

Bilder: SF / Priska Ketterer