Im starken Sog von „El sistema“?

FESTSPIELE / ERÖFFNUNG

26/07/13 Geht es nach den Reden beim Festakt zur Eröffnung der Salzburger Festspiele, dann sollte nach sechs Festspielwochen dank der Kunst die Gesellschaft ein gutes Stück zum Guten hin weitergebracht sein.

123In seiner Festrede ging José Antonio Abreu, venezolanischer Komponist, Ökonom, Politiker, Erzieher, Aktivist und Gründer des nationalen Systems der Jugend- und Kinderorchester von Venezuela "El Sistema" auf die Bedeutung künstlerischer Erziehung ein: "Für die jüngeren Generationen erfüllt die Kunst heute mehr denn je eine Aufgabe, die über die rein schöngeistigen Werte hinausgeht. Sie umfasst immer deutlicher andere zentrale Lebensbereiche: angefangen bei der ganzheitlichen humanistischen Bildung der Persönlichkeit bis hin zu einer künstlerisch geförderten gesellschaftlichen Integration von Kindern und Jugendlichen. Die neue musikalische Generation in Lateinamerika demonstriert, wie ein ganzer Kontinent mit seinen Orchestern sowie Jugend- und Kinderchören ein zukunftsträchtiges Modell gefunden hat", so der Humanist Abreu in seiner gedanklich ausgefeilten Rede.

126Für das weltweit agierende "Sistema" der Jugend- und Kinderorchester von Venezuela sei nicht die künstlerische Ebene vorrangig, betonte Abreu. Vielmehr seien die Orchester und Chöre von "El Sistema" das ideale Instrument, um Kinder und Jugendliche in ein gemeinschaftliches und solidarisches Leben einzuführen, das ihre Persönlichkeit herausbildet. In dem Maße, wie Erzieher mit noch leidenschaftlicher Überzeugung an die immensen Möglichkeiten einer Kunst glauben, die Schwelle hin zu einer neuen Welt ist, werde endlich der Teufelskreis der Armut durchbrochen werden können. Hier sei endlich ein engagiertes Konzept, das Erziehung und Kultur nicht getrennt sehe, sondern sie in ihrer geistigen Dimension zusammenbringe, so Abreu.

"Die Demokratisierung eines Bildungssystems, das allen Kindern Zugang zu Literatur und Kunst, zur Philosophie und zum gemeinschaftlichen Leben gewährt, ist unabdingbar, um die zivile Gesellschaft und den Staat tiefgehend zu erneuern", hob Abreu hervor. "Für die intellektuelle und künstlerische Welt stellt dies eine große Herausforderung dar, jedoch eint sie das Ideal, allen Kindern und Jugendlichen eine künstlerische und ästhetische Erziehung ermöglichen zu wollen."

Landeshauptmann Haslauer über Wagner und Verdi: "Erneut wird eine Art Spurensuche dieser in Musik und Geisteshaltung so unterschiedlichen Komponisten und ihrer historischen Bedeutung nicht nur für die Musik und die Oper stattfinden." In den kommenden sechs Wochen gehe es bei den Salzburger Festspielen um Träume, sagte Haslauer und appellierte: "Träumen wir! Hören wir nicht auf, diese Welt besser, gerechter und menschenwürdiger zu machen und sprechen wir über diese Träume, so wie Martin Luther King es in seiner berühmten Rede und dem Satz 'I have a dream' zum Ausdruck gebracht hat." Am Beginn dieser Salzburger Festspiele stand ein großer Traum: "Es war jener von Hugo 125von Hofmannsthal und Max Reinhardt, dass in Salzburg nach dem unendlichen Leiden des ersten Weltkrieges, nach dem Töten und Schlachten ein anderer Geist obwalten möge, jener der Menschlichkeit, des Humanismus, der der Kunst und Intellektualität. Ihr Traum ist wohl Wirklichkeit geworden", so der Landeshauptmann.

Auch Ministerin Claudia Schmied beschwor die Kraft der Veränderung durch Kunst: Gerade in unseren unsicheren Zeiten brauchen wir, so Schmied, eine persönliche Identität, brauchen wir Sinnstiftung, brauchen wir Kunst als gesellschaftlich-soziale Kraft. "Die Initiative El Sistema, der hier in Salzburg in diesem Jahr breiter Raum gegeben wird, steht für die Hoffnung, die Kunst jungen Menschen gibt. Sie ist ein Kontrapunkt zum Mangel an Perspektiven, an dem so viele Jugendliche auch in Europa leiden. Initiativen dieser Art können uns nicht davon befreien, den jungen Menschen Bildung, Arbeit und soziale Sicherheit zu geben, aber sie sind geeignet, neuen Optimismus zu schaffen."

124"Österreich hat sich zu einem Land des Friedens entwickelt und kann stolz auf die wirtschaftliche Substanz sein. Es ist dies das Ergebnis harter Arbeit und von vielfach außergewöhnlichen Leistungen", betonte Bundespräsident Heinz Fischer. "In der Frage einer gerechten und leistungsgerechten Einkommens- und Vermögensverteilung sind allerdings noch Verbesserungen möglich und wünschenswert. Nicht nur Caritas und Diakonie haben uns immer wieder darauf hingewiesen." Aus unserem Wertesystem folge "zwingend der Wunsch nach mehr gesellschaftlichem Zusammenhalt, nach Rücksichtnahme auf die Schwächeren. Die Kombination von Leistungsfähigkeit und sozialer Verantwortung ist es auch, die zur Stabilität und zum Erfolg unseres Landes wichtige Beiträge geleistet hat und auch in Zukunft leisten wird", sagte Fischer, der für mehr Verständnis für die Notwendigkeit plädierte, das Potenzial Europas durch intensive Zusammenarbeit auszuschöpfen und zu stärken. Politik müsse genauso international sein wie Kunst, und die Außenpolitik sollte nicht mit populistischem Gegenwind zu kämpfen haben, sondern Rückenwind verspüren, wenn sie die Verwirklichung entwicklungspolitischer Ziele anstrebe.

"Die Menschenwürde muss vom Postulat in gesellschaftliche Realität verwandelt werden. Auch in Österreich müssen wir die Sauberkeit von Politik und Gesellschaft sicherstellen und die Rechtsstaatlichkeit gegenüber innerem und äußerem Druck verteidigen", unterstrich Fischer. "Sicher ist, dass die Zukunft unseres Landes eng mit der Zukunft Europas verwoben ist." (LK)

Bilder: Landesmedienzentrum/Neumayr/MMV
Die Festrede von ging José Antonio Abreu im Wortlaut:
Sprache der Demokratie – eine ästhetische Sprache