… lässt auch mal die Sau raus

FESTSPIELE / HARNONCOURT / DIE JAHRESZEITEN

28/07/13 Als ob sich’s einige Parkett Mitte Links-Ticketinhaber ausgemacht gehabt hätten: Der Haydn-Harmonie husten wir eins. Nikolaus Harnoncourt führte die Wiener Philharmoniker dennoch unbeirrt in ein überwältigendes Hoch aufs Landleben.

Von Hans Gärtner

141So viel Tugend-Predigt, so viel Lob des Fleißes! So unreflektiert, kritiklos und geradezu penetrant das Hoch aufs unbeschwert-heitere Landleben ausgerufen! Wer erträgt das heute noch, was Joseph Haydn, dem gut Katholischen, dem Fürstentreuen und Natur-Anbeter da im weit fortgeschrittenen Alter von 67 Jahren vor gut zweihundert Jahren aus tiefgläubigem Herzen und unermüdlich kratzender Feder geflossen war? Wir sind doch längst wieder landflüchtig, schon lange stadtsüchtig. Was also soll dieser vierteilige Frühling/Sommer/Herbst/Winter-Hymnus mit Abendglocke und Spinnerliedchen, flötendem Ackermann und treuem „Pachters“-Töchterl dem säkularen Menschen des mehr als aufgeklärten 21. Jahrtausends noch sagen?

Die Hustenden wurden mit sekundenkurzem Beginn-Verweigern des (nach der Pause einsetzenden) „Herbst“-Teils und mit einem finsteren Droh-Blick des Dirigenten zur Ordnung gerufen. Wie können die Tonmeister des ORF und der koproduzierenden Sender die stoßweisen tönenden Ausatmungen der Luft durch die verengten Stimmritzen einiger Zuhörender eliminieren, um die Aufnahme störungsfrei zu kriegen? Mit solchen Sorgen sich, wenn Atemweg-frei, zu quälen, war so fruchtlos wie deplatziert.

140Harnoncourt, die Wiener Philharmoniker, die Konzertvereinigung Wiener Staatsoper und das Solistenterzett nahmen zweieinhalb Spielstunden derart gefangen (und für sich ein), dass man lieber in den Bittgesang des „Öffne dich und träufe Segen / Über unser Land herab!“ einstimmte: Diese Nummer fleht auch noch – und die Innigkeit und feine Unterwerfung unter das Diktat der gottgelenkten Natur durch den von Ernst Raffelsberger fein einstudierten Chor hätte nicht treffender gebracht werden können – um Tau, Regenguss, um wehende Lüfte! Nichts mehr war in den letzten Tagen zu ersehnen.

In Nikolaus Harnoncourt hatten Haydns „Jahreszeiten“ einen mit der Partitur seit Jahren vertrauten, philologisch gelehrten, zugleich begeisterten Anwalt einer Natur- und Tugend-Euphorie, die der Text Gottfried van Swietens nach dem englischen Versepos „The Seasons“ von James Thomsons transportiert.

Harnoncourts Appell fiel weniger missionarisch als fast ein bisserl verschämt-verhalten und unterkühlt,  mit leisen ironischen Anklängen, aus. Seine unbeirrt dosierte, gebremste Dynamik entsprang aus Abgeklärtheit und – womöglich – auch dem Bewusstsein, dem (hüstelnden) Menschen von heute die Sache mit der bedingungslosen Verbeugung vor Gottes geordnetem Ablauf kreatürlichen Lebens – die Jahreszeiten sind sein Spiegel – nicht allzu apodiktisch abzuverlangen. Der 84-Jährige schuf ein Klangwunder ums andere. Erzeugte Spannung. Bot nirgendwo Hausbackens, sondern alles frisch aus dem Ofen. Mit Kruste und Wohlgeruch. Mirakulös.

Wunderbar auch die Protagonisten Hanna, Lukas und Simon alias Dorothea Röschmann, Michael Schade und Florian Boesch. Alle drei ausnahmslos Lieblinge Harnoncourts. Nicht von ungefähr: Die Röschmann bringt sich mit leuchtendem, schärfefreiem Unschuld-vom-Lande-Sopran ins Geschehen ein, lässt da und dort die Sau raus und wischt dabei jedem ihrer Adoranten die eventuell noch vorhandene letzte Träne aus dem Knopfloch. Michael Schade dürfte als Haydns werbender Jungbauer so leicht nicht auch von keinem Jüngeren erreichbar sein, so viel Schmelz, so viel Wärme, so viel Farbigkeit gewinnt er seiner ja nicht mehr jugendlichen Tenor-Nonchalance ab. Und Florian Boesch verzichtet ganz auf „Pachter“-Gehabe und Allwissenheitspose, setzt seinen schlanken Bariton erzählerisch eher trocken ein, spielt pfiffig, kann auch nicht umhin, sich einiges Komödiantische aus seiner ernsten Partie rauszupicken, das er den, ach, so naturseligen Sonne-verklärenden Passagen, die dem jungen Paar abverlangt werden, wohltuend entgegensetzt.

Grandios die Wiener Philharmoniker (Jagdhörner! Streicher-Einleitungen! Mitreißend Gewitter-Getöse und Finale-Sturz!) - dieses „Jahreszeiten“-Konzert schon jetzt auf die Wunschliste für die hoffentlich bald zu habende CD setzen lässt. Egal, ob mit oder ohne Huster auf die Harmonie.

Bilder: SFS / Silvia Lelli