Die Sanduhr läuft auch digital

FESTSPIELE / YDP / JEDERMANN

07/08/13 Mit dem lebensgroßen Skelett lässt sich herrlich totentanzen. Aber im Schädel des knöchernen Gesellen verbirgt sich eine Kamera. Der allgegenwärtige Knabe hat den Jedermann immer fest im Video-Auge, da gibt’s kein Entkommen.

Von Reinhard Kriechbaum

134Es wird zunehmend eng für Jedermann, auch wenn alle Nebenrollen beiseite geräumt sind und Philipp Hochmair im Wortsinn schalten und walten kann: Er hat einen Fußtaster. Wenn er den betätigt, leuchtet in roter Schrift auf, wessen Rolle er gerade spricht: Armer Nachbar, Guter Gesell, Schuldknecht, und so fort. Kein Problem also, beim Young Director’s Project der Salzburger Festspiele dem von Bastian Kraft zum Einpersonenstück abgespeckten „Jedermann“ zu folgen.

Eine Mitspielerin, außer dem Knochenmann: die Multiinstrumentalistin und Rockröhre Simonne Jones mit ihrem ansehnlichen Arsenal vom E-Bass bis zum Harmonium, vom Klavier bis zur singenden Säge. Letztere kommt zum Einsatz, wenn Jedermanns Mutter zur Moralpredigt ansetzt.

133Das allerwichtigste Requisit in der technisch aufgemotzten Jedermann-Welt auf der Pop-Bühne ist freilich die digitale Zeitleiste. Um 20:00:27 tritt Philipp Hochmair alias Jedermann auf mit den Worten „Mein Haus steht stattlich da“ (die einleitenden Worte Gott des Herrn und dessen Dialog mit dem Tod sind weggeschnitten). Um 20:41 tauchen die ersten Wolken der Midlifecrisis auf, um 20:46 schmettern, begleitet von Glockenschlägen und Bühnennebel, die „Jedermaaannnn“-Rufe. Der Tod, der ist dann doch nicht Hochmair selbst, sondern die goldgewandete Sängerin mit amerikanischem Slang. „OK“, dröhnt sie auf die wimmernde Bitte des Jedermann hin, ein Stündlein noch verweilen zu dürfen.

Da wird die Bühne plötzlich zum kleinen Podest, und die Leuchtschrift „Live“ über der Pawlatsche ist schon fast ein Hohn. Und jetzt kommt’s: Noch kleiner wird die Bühne gemacht, reduziert zum Laptop, auf dessen Screen Hochmair als die verzwergten „Gute Werke“ hockt und wie ein Käfer gestikuliert.

131Genau da hat der aus dem Text gestrichene Gott den Theaterleuten bei der Premiere ein Schnippchen geschlagen und zuerst das blaue Fehler-Fenster von Windows erscheinen lassen. Wer nach einem solchen Signal von oben nicht katholisch wird, dem ist wirklich nicht zu helfen. Auftritt eines Technikers, bald war der Defekt behoben. Die unfreiwillige Pointe war die bei weitem stärkste des an optischen und akustischen Signalen keineswegs reizarmen Abends.

Je nun: Bastian Kraft und sein wunderbar leiser, differenzierter Solo-Darsteller sind ausgezogen, die heutige Dimension des Hofmannsthal-Textes zu ergründen. Sie tun es mit viel Rotstift, aber insgesamt mit allergrößtem Respekt vor dem Text, dem kaum ein Wort hinzugefügt wird. Am materiellen Denken wird die Sache festgemacht. Die Anfangsworte „Mein Haus steht stattlich da“ wiederholt Jedermann trotzig, wenn es ans Ziehen der Lebensbilanz geht. Diese fällt dann bemerkenswert kleinlaut aus. Hofmannsthals (gestrige) Antwort mit den Guten Werken und dem Glauben bleibt auch die heutige. Nicht mal ein buddhistisches Räucherstäbchen zündet dieser neue Jedermann für sich selbst an.

132Fazit: Bastian Kraft und Philipp Hochmair (man muss die beiden als enges Projektteam sehen) wollten vielleicht zu neuen Denkufern aufbrechen und sind doch im Vertrauten angelandet. Sie erzählen hinter der durch und durch heutigen, trashigen Fassade von nichts anderem als dem kreuz-brav sich bekehrenden Jedermann.

Das schaut freilich toll aus im Detail: Die Frage „Woran glaubst Du?“ wird insistierend eingehämmert. Hochmair – natürlich auch der Glaube – rollt in überdimensionaler und mehrfacher Projektion die Augen und wirkt da wie sein eigener Exorzist. Der echte Jedermann-Hochmaier krabbelt davor auf dem Boden und stammelt „Ich glaube … ich glaube, dass ich glaube … der Glaube versetzt doch Berge...“ Jedenfalls macht der Glaube Schluss mit der Digital-Uhr und zieht den Stecker raus. Nach dem Abschied des Mammon waren die Minuten und Sekunden nämlich bedrohlich ins Laufen gekommen.

21:47 Uhr, ein Stündchen und eine Minute später (die Digitalanzeige läuft wieder): Jedermann ist ins Grab gestiegen, kommt wieder raus, klammert sich an einen Buchstaben der Lichtleiste „Live“ und wird himmelwärts gezogen. Es ist, als sei nicht Montblanc, sondern die katholische Kirche der Sponsor dieses Gemeinschaftsprojekts von Young Director‘s Project und Hamburger Thalia Theater. Poppig, trashig – und einfach. Wirklich einfach und einfach wirklich göttlich.

Weitere Aufführungen am 7., 8., 9. und 10. August, jeweils um 20 Uhr in der ARGEkultur - www.salzburgerfestspiele.at
Bilder: SFS / Wolfgang Kirchner