Der indiskrete Charme der neuen Rüpel-Bürger

FESTSPIELE / YDP / DER DISKRETE CHARME DER BOURGEOISIE

21/08/13 „Entleinwandisierung“, was für ein schönes Wort! Ob wir es den Deutsch-Übertitlern verdanken oder ob es sich auf Tschechisch auch so geschraubt anhört? Eine junge Dame sagt’s, gleich in einer der ersten Szenen. Sie nörgelt kurz darüber, dass sich viele Theatergruppen heutzutage nicht an ihnen gemäßen Stücken abarbeiten, sondern Filmstoffe auf die Bühne übertragen.

Von Reinhard Kriechbaum

207Ein krasser Fall von Entleinwandisierung also jetzt auch beim YDP der Salzburger Festspiele, von Luis Buñuels Oscar-veredeltem spätem Meisterwerk „Der diskrete Charme der Bourgeoisie“ (1972). Jan Mikulášek hat eine gar nicht diskrete und noch viel weniger charmante Neo-Bourgeoisie im Umfeld des postkommunistischen Tschechien entdeckt. Korrupte Benimm-Prolos, die sich (wie im Film) zum Diner treffen. Die besseren Sitten beschäftigen sie freilich intensiv. Immer wieder mal hebt einer an, den Knigge auf- und herzusagen. Wie man sich stilvoll – nur mit Gabel natürlich – über eine Kartoffel im Saft hermacht, das ist allemal einen kleinen Monolog wert.

An einem dürftig gedeckten Tisch soll gleich in der ersten Szene ein Totenmahl zelebriert werden. Die passende Trauermusik ist vorbereitet, ungeduldig schauen alle auf die Uhr. Aber der zu Versterbende sitzt aufdringlich passiv da und will partout nicht dahinscheiden. Also wird handgreiflich nachgeholfen, die Lebenden sind in der Überzahl.

208So geht das also dahin, als lockere Szenenfolge mit gediegen synchronisiertem Hyper-Slapstic zu neunt. Gewand-, Dekorations- und Textzitate aus dem Film zuhauf. Paraphrase oder ein durchgeknalltes Spiel mit Versatzstücken? Bei Buñuel und seinem Scriptschreiber Jean-Claude Carriére läuft die Absurdität auf der tiefenpsychologischen Schiene. Die äußere Form, der gediegene Umgang miteinander gilt den Protagonisten im Film alles. Aber kleine Pannen wecken begründete Ängste und schaffen dem Einzelnen Alpträume. Schließlich handelt man mit Rauschgift, ist wirtschaftlich korrupt durch und durch. Und wenn man auch beständig gemeinsam auf dem Weg (zum Diner) ist, so traut man einander nicht über eben diesen.

Der Brünner Theatermacher Jan Mikulášek findet in der Neo-Bourgeoisie seiner Heimat aufgeblasene Typen. Sie koksen auch sind natürlich nicht weniger korrupt als ihre französischen Kollegen der frühen siebziger Jahre. Und sie trauen einander ebenso wenig über den Weg. Obendrein sind sie ungehobelte Flegel, deshalb klappt das Facon-Bewahren nicht mal im Ansatz. „Faux Pas“ steht auf der Kulisse. Diese Wände zitieren exakt den Buñuel-Film, und zwar jene Szene, da mit dem Offizier einer von der Gesellschaft „außen“ in den verschworenen Bürgerzirkel einbricht. Seine Essenseinladung bringt im Film das abgezirkelt-kontrollierte Leben der Edelbürger nachhaltig durcheinander.

209In Jan Mikulášeks Theaterstück haben wir es aber nicht mit diskreten Charmeuren, sondern mit aufdringlichen Rüpeln zu tun, die ihre Schrankenlosigkeit und Saturiertheit aufdringlich zelebrieren. Bürgertum als Modeerscheinung einer Gesellschaft ohne Werte. Die verkehrten Kulissenwände wollen uns vielleicht sagen, dass die Fassade hier ausschließlich nach außen gerichtet ist. Bei Buñuel hingegen hat jede Figur ihre Fassade auch vor sich selbst errichtet. Die potemkinschen Dörfer Buñuels reichen ins jeweilige Seelenleben.

Bei Jan Mikulášek wird das alles ziemlich frontal. Die Neo-Bourgeoisie, die er uns vorstellt, hat keine Geschichte und strauchelt deshalb in der Gegenwart. Das ominöse gute Benehmen, das sie so eifrig betreiben, hat keine Tradition, ist bestenfalls Masche und dürftige Verkleidung. Die (Alb)Traumkomponente kommt entschieden zu kurz, auch wenn sich (wie bei Buñuel) immer wieder jemand zu Wort meldet und von seinen Schlafgespinsten berichtet.

Jedenfalls wird mit starker Theaterpranke erzählt, in bester Tradition des absurden Theaters. Im Krakauer Stari Teatr (gar nicht so weit weg von Brünn, wo Jan Mikulášek arbeitet), hätte man das in der Zeit, als Buñuel seinen Film drehte, vielleicht in ähnlicher Form sehen können. Es wird viel grimassiert, Gesten und Blicke erreichen Stummfilm-Dimension. Die feine Ironie ist hier nicht beheimatet, und das ist denn doch ein großer Unterschied zu Buñuel. Wahrscheinlich wirkt die Parodie witziger auf jene im Publikum, die die Filmvorlage nicht kennen.

Weitere Aufführungen am 21., 22. und 23. August - www.salzburgerfestspiele.at
Bilder: SFS / Wolfgang Kirchner