Wenn wir bloß die Ragas und Talas heraus hörten!

FESTSPIELE / OUVERTURE SPIRITUELLE

17/07/15 Musik des Hinduismus ist heuer bei der „Ouverture spirituelle“ der Salzburger Festspiele ein Schwerpunktthema. Um Indien geht es folgerichtig auch bei den „Disputationes“ in diesen Tagen. - Die aus Salzburg stammende Indologin und Religionswissenschafterin Prof. Bettina Sharada Bäumer im Interview.

Gibt es Gemeinsamkeiten der religiösen Musik in Hinduismus und Christentum?

Bettina Bäumer: Da die indische Musik nicht polyphon ist, besteht die Gemeinsamkeit vor allem mit dem gregorianischen Choral. Eine wichtige Verbindung spielt dabei die musikalische Rezitation von Hymnen in Sanskrit bzw. Latein oder Griechisch. Die Hymnologie spielt im religiösen Leben des Hinduismus eine ganz große Rolle und ebenso wie in den christlichen Hymnen bestimmt sie auch die Spiritualität, sowohl gemeinschaftlich wie in der individuellen Frömmigkeit. Die Rezitation der Hymnen in beiden Traditionen vermittelt auch eine poetisch-musikalische Theologie.
Eine weitere Gemeinsamkeit ist das Singen von religiösen Liedern, Bhajana in Hindi oder anderen neuindischen Sprachen, vergleichbar dem christlichen Kirchenlied.

Was sind für europäische Ohren die größten "Hörschwellen" in Bezug auf hinduistische Musik?

Bettina Bäumer: Es ist nicht ganz richtig, von „hinduistischer“ Musik zu sprechen, denn die indische Musik, wie sie heute eine lebendige Tradition darstellt, hat viel von islamischen Einflüssen übernommen. „Hörschwellen“ sind einerseits die Abwesenheit von Polyphonie, und wenn mehrere Instrumente und Sänger gemeinsam musizieren, geht es dabei eben nicht um Polyphonie, sondern um ein Neben- und Hintereinander. Wenn z.B. ein Saiteninstrument wie Sarangi eine Sängerin begleitet, so „folgt sie ihr nach“, und versucht nicht, eine Harmonie zu erzeugen. Der Genuss indischer Musik durch europäische Ohren ist insofern behindert, dass der Hintergrund des Wissens um Ragas und Tala fehlt. Ragas sind Melodiestrukturen, die genau eingehalten werden müssen, wobei eine große Freiheit der Improvisation besteht, im Rahmen der vorgegebenen Struktur. Tala sind rhythmische Strukturen, die der uneingeweihte Europäer ebenfalls nicht erkennen kann. Er kann daher das Miteinander von Melodie und Rhythmus nicht erkennen und das Spiel zwischen strenger Regel und freiem Spiel nicht unterscheiden. Eine weitere Feinheit der indischen Musik sind die Zwischentöne und die gleitenden Übergänge. Obwohl die Grundtonleiter ebenfalls sieben Noten hat, gibt es 24 Untertöne oder Shrutis.

Richtet sich religiöse Musik im Hinduismus mehr an die Gottheiten oder an die Gemeinde?

Bettina Bäumer: Religiöse Musik kann in Gruppen gemeinsam gesungen und musiziert werden, in Tempeln oder Ashrams (Klöstern) oder auch in privatem Kontext. Dann kann man unterscheiden zwischen ritueller Musik, ob im Tempel, bei Festen, Prozessionen usw. und Aufführungen, die religiösen Inhalt haben, und ebenfalls im Tempel wie außerhalb stattfinden. Man kann unterscheiden zwischen Musik – vor allem Hymnen und Liedern, die direkt an die Gottheit gerichtet sind, in Anbetung oder Gebet – und mystischen Texten, die oft ekstatisch gesungen werden und deren Zweck es ist, die Gläubigen zu inspirieren und in eine mystische Stimmung zu versetzen. Die dritte Kategorie wäre rein rituelle Musik, wie schon erwähnt. Bei der Ouverture spirituelle wird diese vertreten durch Musiker aus Südindien (Tamil Nadu), deren Instrumente – Nadaswaram (eine Art Trompete oder Oboe) und Thavil (Trommel) – rein im Tempel zu Ritualen und Prozessionen verwendet werden.
Selbst sogenannte klassische Musik, die vor einem Publikum außerhalb eines religiösen Rahmens aufgeführt wird, wird oft, individuell oder gemeinschaftlich, als Hilfe zur Meditation verwendet und wird auch von den ausführenden Musikern als spirituelle Praxis geübt.

Welche Rolle spielt der Tanz in diesem Zusammenhang?

Bettina Bäumer: Tanz braucht immer musikalische Begleitung, aber nicht umgekehrt, Vokal- und Instrumentalmusik kann unabhängig vom Tanz ausgeführt werden. Der ursprüngliche Kontext des Tanzes ist der Tempel, d.h. der Tanz ist eine Art Darbringung oder Hingabe an die Gottheit, mehr als eine Darstellung für die Gläubigen. Durch das Verbot des Tempeltanzes durch die britische Kolonialregierung wurde der Tempeltanz verbannt und die Tanzformen mussten außerhalb des sakralen Kontextes wiederbelebt werden. So kam es zum Tanz als Aufführung für ein Publikum, anstatt für die Gottheit. Doch die Inhalte sind immer noch weitgehend religiös, mythologisch und spirituell.

Wie stark ist im Hinduismus die im Christentum übliche deutliche Trennung zwischen religiöser und weltlicher Musik?

Bettina Bäumer: Wie schon angemerkt, ist die Trennung von religiöser und weltlicher Musik teils historisch bedingt und nicht ursprünglich. Doch haben Musik und Tanz ihren ursprünglichen Kontext vor allem auch im Theater, wobei der älteste Text der Dramaturgie, das Natyashastra, auch bedeutende Kapitel über Musikwissenschaft enthält. Doch auch dieser Text steht in einem religiösen Rahmen. Die Definition des Unterschieds von weltlich oder religiös hängt oft vom Inhalt der gesungenen Texte ab, ob es sich z.B. um Liebeslieder handelt oder um religiös-mystische Texte.

Instrumentalmusik ist in gewissem Sinn neutral, weil sie keine Texte enthält, und es hängt oft vom Interpreten ab, ob er sein Instrument und seine Musik als Ausdruck religiöser Erfahrung betrachtet oder in einem neutralen Sinn ästhetisch. Als Beispiel kann man den berühmten Flötisten Hariprasad Chaurasia nennen, der seine Flöte als die Flöte des Hirtengottes Krishna betrachtet. (PSF)

Die aus Salzburg stammende Indologin und Religionswissenschafterin Prof. Bettina Sharada Bäumer lebt seit 1967 in Varanasi (Indien) und forscht in Sanskrit, indischer Philosophie und Kunst. Bäumer publizierte über zwanzig Bücher, inklusive Übersetzungen aus dem Sanskrit ins Deutsche und Englische. Sie ist Ehrendoktorin der Universität Salzburg.
Seit 2012 gibt es die „Disputationes“ im Rahmen der Ouverture spirituelle der Salzburger Festspiele, ausgerichtet vom Herbert-Batliner-Europainstitut. Das Thema heuer: „Über Europa hinaus – Indiens Kultur und Philosophie“. Als Auftakt gibt es morgen Samstag (18.7.), 17 Uhr, im Karl-Böhm-Saal eine Lesung von Schauspielchef Sven-Eric Bechtolf unter dem Titel „Sehnsucht nach Indien. Literarische Annäherungen“: Texte von Stefan Zweig, Hermann Hesse, aber auch von Nietzsche und Beethoven, die alle den Mythos Indien mit seiner spirituellen Vielfalt zum Inhalt haben. Begleitet wird die Lesung von Sitarimprovisationen des österreichischen Komponisten und Musikers Klaus Falschlunger. Am 20., 21. und 22.7. gibt es nachmittags Gesprächsrunden in der Salzburg-Kulisse.
Das Programm der „Disputationes“ zum Download
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