Emotional aufgeladen und doch abgespeckt

FESTSPIELE / H-MOLL-MESSE

20/07/15 Man nannte sie einst die „Hohe Messe“, die über vier Jahrzehnte hinweg entstandene h-Moll-Messe des Johann Sebastian Bach. Später sah manch analytischer Geist in ihr mehr ein geniales Stückwerk. Zu den Kronjuwelen der abendländischen Musik zählt sie allemal – dies wurde am Sonntag (19.7.) in der Kollegienkirche besonders deutlich.

Von Gottfried Franz Kasparek

Zweifellos ist das gewaltige Stück eine ökumenische Messe, denn das Latein war dem Leipziger Protestantismus der Bach-Zeit keineswegs fremd. Dass sie deshalb auch für den katholischen König in Dresden taugte, war eine für den ein Hofamt anstrebenden Komponisten erfreuliche Tatsache. All dies ist historisch interessant, bleibt aber letztlich unwesentlich vor der Zeiten und Religionen überspannenden, spirituellen Kraft dieser Musik und der wahrhaft himmlischen, eigentlich alle christlichen Liturgien überfordernden Länge des Gesamtwerks. Mag es nun als solches geplant worden oder, plausibler, im Lauf der Jahre zusammen gefügt worden sein.

Zu Zeiten der „Hohen Messe“ marschierten Hundertschaften musizierender und singender Menschen aufs Podium und sorgten für romantisch aufgeladene Kolossal-Klanggemälde. Die Originalklangbewegung sorgte dann für reinigende Askese, die freilich mitunter genau das erreichte, was Bach nicht wollte, worunter er sogar litt – nachzulesen in seiner berühmten Eingabe an die Leipziger Kunst-Sparmeister. Eine rein solistische Besetzung mag strukturell erhellend sein, den Willen des Komponisten erfüllt sie nicht.

Václav Luks, der tschechische Barockspezialist und Dirigent dieser denkwürdigen Aufführung, arbeitet mit seinem „Collegium Vocale 1704“, einem wundersam klar artikulierenden, in allen Stimmlagen berückend klangschönen und dennoch transparent klingenden 30köpfigen Chor, und dem aus ebenso viel Leuten bestehenden „Collegium 1704“. Letzteres, angeführt von der perfekten Konzertmeisterin Helena Zemanová, spielt mit größter Selbstverständlichkeit auf barocken Instrumenten und natürlich historisch informiert, jedoch in jedem Takt emotional aufgeladen.

Böhmische Musizierlaune tut, mit Verlaub, der herben Meisterschaft des Kontrapunkts erfrischend gut und kann durchaus ohne Vibratoseligkeit daherkommen. Die Angabe von drei Klarinetten im Programmheft verblüfft zunächst; offenbar ein Übersetzungsfehler, denn es handelt sich um drei fabelhaft schmetternde Trompeten, barock auch „Clarino“ genannt.

Václav Luks zeichnet die Komplexität und Innerlichkeit des Werks mit beredten, beschwörenden Gesten nach. Lyrische Abschnitte, vor allem die Arien der im Chor mitsingenden Solistinnen und Solisten, gelingen ohne Sentiment, schlicht, berührend und voll verzaubernder Klangpoesie. Die Sopranistinnen Hana Blažiková und Sophie Harmsen, der Altist Alex Potter, der Tenor Václav Čižek und die Bässe Tomás Král und Marian Krejčik erfüllen ihre Rollen mit stimmlicher Qualität und hoher Ausdruckskraft. Grandios wirken die dramatischen Sequenzen, besonders die mitreißenden Übergange dazu. Credo und Osanna erscheinen in einer bei aller Energieentladung prächtigen Farbigkeit – überhaupt sind es die vielen Farben der Partitur, die Luks mit Akribie vermittelt, dabei nie den großen, weit atmenden Bogen der Musik vergessend. Großer Jubel und Standing Ovations. Der Maestro und seine Collegien bedankten sich mit einer Wiederholung des atmosphärischen „Dona nobis pacem“.

Um baldige Wiederkehr nach Salzburg wird gebeten. Wie wär’s mit dem böhmischen „Bizarren neben Bach“, dem von Luks vorbildlich eingespielten Jan Dismas Zelenka?

Bilder: www.collegium1704.com