Wer Boulez liebt, der schnipselt und pickt

FESTSPIELE / SOLISTENKONZERT AIMARD, STEFANOVICH

09/08/15 Vor die eigentlich fällige Eloge für die Ausführenden muss man als kleine Einschränkung schon hinschreiben: Das gesamte Klavierwerk von Pierre Boulez Stück um Stück an einem Abend ist eine Sache, mit der man sich das Leben als Musikhörer so richtig schwer macht.

Von Reinhard Kriechbaum

Also Selbstquälerei, very sophisticated? Ja und nein. Den Zugang findet man in einer solchen chronologischen pianistischen Anthologie mit hoher Wahrscheinlichkeit. Aber es besteht die Gefahr – weil man Boulez nun wirklich nur mit voller Konzentration rezipieren kann – dass man den Zugang auch wieder verliert, mit sinkender Aufnahmebereitschaft.

Die Hör-Kondition sackt im Verlauf von zweidreiviertel Stunden ganz notgedrungen ab. In diesem Fall hat das geheißen: Jene legendären „Structures, deuxième livre pour deux pianos“, die Aposteln der Tastenmusik als eines der Evangelien in der Klaviermusik des 20. Jahrhunderts gelten, standen ganz am Ende eines so erhellenden wie strapaziösen Abends. Und irgendwann ist für den aufmerksamsten Hörer Schluss mit lustig.

Nicht, dass man bis dahin nicht auch viel erfahren und mit liebevoller Moderation durch die beiden Klaviertiger Pierre-Laurent Aimard und Tamara Stefanovich vermittelt bekommen hätte. Vor jedem Stück griffen die beiden zum Mikrophon, gaben kleine Motiv-Proben zum Besten und taten nun wirklich alles, um unprätentiös Einstiegshilfen zu geben. Und beide sind schließlich Spezialisten für neue(re) Klaviermusik, die sich keineswegs in den Rollen als Analysierer finden, sondern immer auch ganz spontane Musizierlust vermitteln.

Man täte es ja gar nicht glauben, dass Boulez die beiden Sätze seiner Première Sonate mit „Lent“ und „Assez large“ überschrieben hat, so purzeln da in quasi neobarocker Motorik die Noten. Das mag intellektuell kalkuliert sein, es ist doch immer auch Material zum Brillieren (das in diesem Fall Aimard für sich nutzte). Man merkt, dass der junge Boulez in seinen „wilden“ Zwanziger- und Dreißigerjahren auch als Pianist aufgetreten ist und sich aufs Effektmachen verstanden hat.

In der Deuxième Sonate ist der Tonfall manchmal ruhiger. Tamara Stefanovich hat gerade dieses Halbstunden-Opus (das längste Stück des Abends) mit verführerischer Lyrik angereichert. Stefanovich griff zum Bild eines Aquariumfisches, der daher kommt, am Platz innehält, und sich dann mit zuckelnden Bewegungen in irgendeine unvorhersehbare Richtung davon macht. Das gilt irgendwie für die Serielle Musik überhaupt, macht den Überraschungsfaktor aus und gibt den Ausführenden manche Trumpfkarte in die Hand. Das „Berechnete“ der Tonreihen und anderer Parameter bekommt man als Hörer ja nicht mit.

Die Trümpfe haben Aimard und Stefanovich in großer Zahl ausgespielt. Packend ist ja schon Boulez klavieristisches Komponier-Debüt ausgefallen, mit den „Douze Notations“ (1945) des gerade Zwanzigjährigen: pointierte „Charakterstücke“ in komprimierter Verknappung und zugleich großer spielerischer Geste. Auf solche Dinge hat der Siebzig-, Achtzigjährige nach fast einem halben jahrhundert Klavier-Kompositionspause zurückgegriffen, als er für Klavierwettbewerbe zwei kleinere, artistisch und wirkungssicher angelegte Stücke schrieb.

Interessant natürlich die Entwicklung des Vorzeige-Serialisten, den Interpreten auch Freiheiten mitzugeben. Äußeres Zeichen: Da hatten Pierre-Laurent Aimard und Tamara Stefanovich immer mehr zusammengeklebte Noten auf den Pulten. Ihre Lesarten der Notentextbausteine eben. Wer Boulez liebt, der schnipselt und pickt...

Bilder: Salzburger Festspiele / Marco Borrelli