Und dann stand die Zeit still

FESTSPIELE / WIENER PHILHARMONIKER / BARENBOIM

23/08/15 Der Programmheft-Beitrag kann gar nicht ausbleiben mit Überlegungen, wie welt-abgewandt, gar jenseits-sichtig Gustav Mahler seine „Neunte“ gedacht haben mag. Spannender allemal: Wie antwortete Mahler in diesem Werk auf ein das neue Diesseits?

Von Reinhard Kriechbaum

Daniel Barenboim und die Wiener Philharmoniker mit der „Neunten“ an diesem Wochenende (22./23.8.) zur Matineenstunde im Großen Festspielhaus: Da hatte Mahler mithin zwei Verteidiger gegen die Exegeten von Musikologen-Seite. Die Philharmoniker haben das Werk schließlich im Jahr nach Mahlers Tod unter Bruno Walter uraufgeführt. Und Barenboim ist nicht minder kompetenter Anwalt für den vermeintlichen „Zeitgenossen der Zukunft“, der sich gerade mit dem Adagio der „Neunten“ eindeutig wie selten sonst als Zeitgenosse seiner eigenen Vergangenheit geoutet hat. Folgerichtig nimmt Barenboim aus dem Streicher-Aufschrei zu Beginn dieses finalen langsamen Satzes ein gutes Quäntchen Expressivität heraus, zugunsten der wertkonservativ-wohlklingend dahin strömenden Streicherflut. Und wie zur Bestätigung dieses symphonischen Retro-Bekenntnisses Mahlers darf dann, wenn sich das Englischhorn mit seinem Solo einbringt und die Holzbläsersoli bestätigend schmeicheln, die Harfe ihre Terzen mit dem nötigen Nachdruck beisteuern.

Gerade die Harfe hatte ja gleich zu Beginn des ersten Satzes aufhorchen lassen: keine Spur von waberndem Nachhall, ganz so, wie es Barenboims holzschnittartiger Sicht gerade auf diesen Eröffnungssatz entspricht: Ob Barenboims straffer Tempoorganisation fällt doppelt auf, wie die Wunderhorn-Melodien herein flüstern oder schreien, schleichen oder drängen, bimmeln oder dröhnen, wie sie dann doch kammermusikalisch marginalisiert, harmonisch unterlaufen, also irgendwie als nebulose Erinnerung an eine bessere Zeit zerstäubt werden. Gibt an diesem Satz-Ende die Sologeige eine beruhigende Antwort oder ist nicht die letzte Irritation des Schlussakkords durch die Piccoloflöte das nachhaltigere Signal?

Barenboim und die ihm aufs Aufmerksamste folgenden Wiener Philharmoniker haben an diesem Vormittag die Kämpfe sehr anschaulich (und doch mit viel Charme) geschildert, die Mahlers Komponistenherz damals, 1910 in Toblach, fast zerrissen haben müssen: Als Dirigent wusste er um neue, expressive Strömungen. Umso trotziger erteilte er in der „Neunten“ der Neutönerei eine Abfuhr. Gewiss fehlte es in dieser Wiedergabe nicht an markiger Prägnanz in den Binnensätzen, denen beißende Ironie ja eingeschrieben ist. Doch in Barenboims umsichtigen Formulierungen bleibt eher der Schmerz spürbar, dass all diese Ländler-Seligkeit verloren, des Knaben Wunderhorn bis zur Neige ausgetrunken sein soll. Eine markante Episode: das wie ein blendend-lichter Nebel ausformulierte Ende des dritten Satzes, ein Ausloten von Perspektive auf schwankendem harmonischen Boden – eine für Mahler offenkundig vergebliche Standortsuche. Das war ganz wundersam genau austariert im Klanglichen, wie es so wirklich nur die Wiener Philharmoniker zuwege bringen.

Und dann eben: das Adagio, in dem Barenboim schlicht und einfach die Uhren angehalten hat. Atemberaubend spannend gerade deshalb, weil er die Zeit einfach stehen bleiben hieß. Eindringlicher kann man nicht zeigen, wie Mahler damals, um 1910, gleichsam aus der Zeit gefallen war.

Eine Zeitlang hielt Barenboim danach die Hände oben, aber auch als er sie schon hatte sinken lassen, gab es weitere lange Sekunden der konzentrierten Stille. Solche Momente spürbaren In-Bann-Schlagens der Zweitausendschaft im Großen Festspielhaus sind rar.

Bild: Salzburger Festspiele / Marco Borrelli