Schrecklich, aber bibelfest

FESTSPIELE / OUVERTURE SPIRITUELLE/ ÖSTLICHES CHRISTENTUM I

24/07/16 Es war eine abwechslungsreiche Reise durch leidenschaftlich interpretierte russische Chormusik: Ob mit zartem oder schmetterndem Gesang, der Chor der Staatlichen Kapelle St. Petersburg hinterließ Gänsehaut beim Publikum in der Kollegienkirche.

Von Thomas Weiss

Weil das Verbot von Instrumentalmusik während des Gottesdienstes in den orthodoxen Kirchen noch weitgehend Gültigkeit hat, sind die unglaubliche Vielfalt und die Geschichte der russisch-orthodoxen Kirchenmusik eben anhand der überaus reichen Literatur für A-capella-Chor am schönsten zu erzählen. Der Chor der Staatlichen Kapelle St. Petersburg, einer der ältesten der Welt, begeisterte mit einem Streifzug durch fünf Jahrhunderte russischer Gesangstradition: Wiedergaben, die sich direkt ans Herz des Publikums wenden.

Im ersten Teil des Konzertes am Samstag (23.7.) standen vor allem die Männerstimmen im Vordergrund. Das begann mit einem Fragment aus dem Sticheron (Morgen/Abendhymnus) von Zar Iwan IV. aus dem 16. Jahrhundert. Iwan hat zwar das wenig schmeichelhafte Attribut „der Schreckliche“ bekommen, aber er galt auch als fromm und bibelfest. Mit freudig ausbrechenden Klängen, wie etwa bei Stepan Degtjarjows „Heute freut sich jedes Geschöpf“ konnte der Chor ebenso auftrumpfen, wie mit zarten, dynamisch gediegen ausdifferenzierten Chorälen und Hymnen. Überschwängliche, schmetternde Passagen gelangen ebenso, wie äußerst zart und fein gesungene Piano-Stellen. Mit dem geistlichem Konzert für Chor von Maxim Beresowski offerierte man vor der Pause ein Beispiel dafür, wie folkloristische Elemente unter den Einfluss von italienischer Polyphonie gerieten.

Die solistischen Beiträge übernahmen Sängerinnen und Sänger aus dem Chor, wobei Vladislav Chernushenko viel Abwechslung anstrebte und damit spannende Klangnuancen erreichte.

Vor allem nach der Pause zeigten die Solisten aus dem Chor, welch herausragendes Kollektiv an Sängern da beisammen ist. Die von der Kanzel herunter gesungene „Heilige Liebe“ von Georgi Swiridow (1915-1998, einem Schostakowitsch-Schüler) etwa ging ebenso unter die Haut wie das „Bekräftige, o Gott“ von Alexander Kosolapow. Mit dem Konzert für Chor Nr. 3 von Dimitri Bortnjanski (1751-1821) erinnerte man an einen aus der Ukraine stammenden Komponisten, der die russisch-orthodoxe Musik nachhaltig beeinflusste: eine mitreißende Mischung aus „volksliedhaften“ östlichen Klängen, die nach den Regeln der westlichen Musik geformt sind.

Ein Stück der Geschichte des Chores der Staatlichen Kapelle St. Petersburg gestaltet Vladislav Chernushenko als Chefdirigent und künstlerischer Leiter seit über vierzig Jahren, selbst mit. Seine Art zu dirigieren erinnerte an einen Marionettenspieler: Diskret und unaufgeregt zog er die Fäden. Die führenden Hände des Dirigenten waren von den Sitzreihen aus nur selten zu sehen.

Bild: Salzburger Festspiele / Michael Pöhn