Musik macht auch Selbstbewusstsein

FESTSPIELE / OUVERTURE SPIRITUELLE / GEGHARD VOCAL ENSEMBLE

01/08/16 Eine der Stärken der „Ouverture spirituelle“: Sie begab sich heuer mit dem Thema Ostkirchen auch auf exotische Fährten und geographisch mehrmals auf „vorbelastetes“ Terrain. Trotzdem keine vorschnellen politischen Statements. Und, noch wichtiger: kein folkloristischer Kitsch.

Von Reinhard Kriechbaum

Armenien wäre für beides anfällig. Es wird dort auch genügend spirituelle Musik gehandelt, in der die Zeitgeschichte, der Genozid am Beginn des 20. Jahrhunderts thematisiert wird. Das Programm am Sonntag (31.7.) Vormittag in der Kollegienkirche, mit dem formidablen Geghard Vocal Ensemble, stand für ganz andere Musik. Da gibt es in Armenien also eine starke regional gefärbte Tradition, sogar noch ein Jahrhundert älter als unser Gregorianischer Choral. Der Vergleich drängt sich auch deshalb auf, weil man – wie im fränkischen Raum für die Gregorianik – auch in Armenien erst nach ein paar Jahrhunderten mündlicher Weitergabe nach einer Notenschrift gesucht hat, um das Gesungene zu „fixieren“. Unsere Neumen sind unterdessen gut erforscht und hilfreich – die armänische Musiknotation ist nach wie vor unentschlüsselt.

Die Sängerin Anahit Papayan, ihre Solisten-Kolleginnen Luiza Yeremyan und Tatew Tadewosyan und das Geghard Vocal Ensemble, zusammen acht junge Damen von enormer vokaler Strahlkraft und Homogenität, stellen solche Musik (meist Hymnen) gelegentlich in einstimmiger „Originalgestalt“ vor. Das ist natürlich stets wissenschaftliche und aufführungspraktische Hypothese. Öfter aber greift das Geghard Ensemble zu Sätzen, die im 19. und 20. Jahrhundert auf die alten Melodien geschrieben wurden. Nicht nur in Europa hat man im 19. Jahrhundert das „Nationale“ entdeckt und quasi als Kunst zum Zweck der Stärkung regionalen Selbstbewusstseins instrumentalisiert. Dieser Aspekt ist mindestens so interessant wie die Frage nach dem vermeintlich “Originalen“.

Das Geghard Vocal Ensemble hat schließlich über 75-Minuten eine Musik-Girlande geknüpft, die nicht nur ob der sängerischen Performance das Staunen lehrte. Wenn die vier tiefen Stimmen genau eine Oktav unter den Melodiestimmen einhaken, macht das archaischen Effekt. Die Melodien sind oft geradlinig, schmeichlerisch, bekommen aber mit feinstufigen Melismen fremdartigen Reiz. Man hört sehr gut, dass die Schöpfer dieser Musik auch die Musik des Vorderen Orients im Ohr hatten.

Bild: Salzburger Festspiele / Michael Pohn