Symphonisches Pappmaché um 1900

FESTSPIELE / RSO WIEN / LORENZO VIOTTI

07/08/16 Es gibt Werke, die man so oft gehört hat, dass sie einem eigentlich zum Halse raus hängen. Das Zweite Klavierkonzert von Rachmaninow steht ganz weit oben auf dieser Liste. Andere tun eben das schon beim ersten Hören, ja noch bevor sie den Schlusssatz erreicht haben. Dazu gehört ganz ohne Zweifel Skrjabins Symphonie Nr. 2  c-Moll.

Von Reinhard Kriechbaum

Wenn's hoch herkommt, kommt einem auch als beflissenem Musikhörer diese 1902 in St. Petersburg uraufgeführte Symphonie alle zehn Jahre einmal unter. Das ist genug Abstand zum Verdrängen. Aber man darf natürlich nicht ungerecht sein: Um die Jahrhundertwende herrschte auch hierzulande allergrößte symphonische Ratlosigkeit über das ästhetische Wohin. Selbst der junge Schönberg hat besetzungs- und emotionsmäßig damals schon mal weit übers Ziel hinaus geschossen.

Warum mag sich der 25jährige Lorenzo Viotti – er war im Vorjahr Preisträger des Young Director's Award in Salzburg – für seinen Festspiel-Einstand gerade dieses Stück ausgesucht haben? Mag sein deshalb, weil ein junger Dirigent damit zeigen kann, dass er Klangmassen zu organisieren weiß und sich nicht so leicht klein kriegen lässt von den zu Dutzenden angehäuften Fortissimo-Gipfeln. Skrjabin wusste mit symphonischem Pappmaché ja ganze Gebirgszüge aufzutürmen und naturhaft anzumalen. Der Gipfelsturm hebt an im Tschaikowsky'schen Fagott- und Klarinetten-Trübsinn à la Pathetique und gipfelt irgendwo in einer Wagner-Apotheose. Dazwischen ein endloser langsamer Satz mit viel Vogelgezwitscher. Handwerklich war der dreißigjährige Alexander Skrjabin echt gut drauf.

Das RSO Wien und der junge Dirigent haben ihre Sache blendend gemacht und am Sonntag (7.8.) Vormittag in der Felsenreitschule vielleicht sogar leichtfüßiger musiziert, als es ihnen der Komponist in die Noten geschrieben hat. Da gab es nichts zu mäkeln am Weg zum Werk, für das die Ausführenden – kein Wunder, wenn's so recht laut und üppig zugeht – ordentlich Jubel einsammeln durften.

Mit dem Jubel ist es halt so eine Sache, wie man beim Rachmaninow-Konzert Nr. 2 zuvor sah: Die Georgierin Khatia Buniatishvili hat auch drin baden dürfen. Schon wahr, sie ist eine profunde Technikerin, die Passagen welchen Schwierigkeitsgrads auch immer in wunderbar klarem Piano rüber bringt. Wer das drauf hat, der hat bei Rachmaninow und beim Publikum im sprichwörtlichen Sinn ganz leichtes Spiel. Für ein Orchester vom Format des RSO und einen trotz Jugend schon wirklich routinierten Dirigenten ist es auch keine Herausforderung. Man hätte das so stehen lassen können, hätte Khatia Buniatishvili nicht in zwei Zugaben (Debussy, Bach) eindrucksvoll vorgeführt, dass ihr offenbar jede Musik zu glasklarem Kitsch auf Pianissimo-Level gerinnt. Die gestalterische Perspektive ist zumindest anzuzweifeln.

Und das war letztlich die Crux dieses an der Oberfläche betörend „schönen“, aber wenig erhellenden Konzerts: Es hat wenig ausgesagt über das musikalische Format, weder der Solistin und letztlich auch nicht über den jungen Dirigenten. Die Liste von Orchestern, vor denen der 25jährige schon gestanden ist, kann man herzeigen. Als Einspringer namhafter Kollegen soll er auch gute Figur gemacht haben. Er scheint mit echter Musik wohl auch umgehen zu können. Schade, solche hätte man gerne gehört.

PS: Am Beginn der Matinee stand ein gar abstruses Ding: Dmitri Kabalewskis Ouvertüre zur Oper „Colas Breugnon“, komponiert in den 1930er Jahren. Das war schon in der Stalin-Zeit. Da hat's einer an Realitätsflucht wohl mit Richard Strauss aufgenommen, aber dafür rasselnden Neoklassizismus gewählt. Damit war Kabalewski damals vorne dran, was man 1901/02 weder von Skrjabin noch von Rachmaninow sagen konnte.

Bilder: Salzburger Festspiele / Marco Borrelli