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Sofern noch Zeit bleibt

FEUILLETON

02/01/23 Da steht ein Mann am Stadttor. Einen Tonkrug in der Hand, der höchst unfreundliche Worte im Namen seines Herrn den Umstehenden in die Ohren schreit. Er tut es im Namen seines Gottes, der auch der Gott dieser unwilligen Zuhörer ist, die ihm mißmutig zuhören.

Von Franz Mayrhofer

Später wird er bitten für sein Volk, das sich von Gott abgewandt hat. Und Gott rüffelt ihn dafür ordentlich: Zerbrich das Gefäß. Das ist es, dieses „Sofern noch Zeit bleibt“. Wer gibt die Chance mit dem Zeitfenster? Und wer ist jener, der den Krug zerbricht? Es ist Jeremias, der Prophet. Ab 630 vor Christus angesiedelt, der von eigener Hand seine Confessiones überliefert.

Gott und sein Prophet. Und die Zeit. Und der Tonkrug. Haben wir aus dieser alttestamentarischen Erzählung, die ja kein orientalisches Märchen ist, etwas gelernt? Dass der Krug leicht zerscherbt, ist leicht einsehbar. Auch die Erfahrung, dass keine Mahnung in verstockten Ohren etwas ausrichtet und sei sie noch so eindringlich und drohend. Ferner: Wenn einer sich für andere stark macht, weil er nicht mitansehen kann, wie sie sich ins Verderben stürzen, wird er oft frustriert, weil seine Hilfe niemand annimmt oder annehmen will. Und schließlich: Ist es endlich Schluß mit aller Nachsicht Gottes, den der Propheten um Pardon für sein ungehorsames und verkommenes Volk anfleht?

Wenn man all dem auf den Grund geht, sieht man einen höchst modernen Nihilismus, der über aller Geschäftigkeit, Tüchtigkeit, Steigerung des BNP und Gewinnmaximierung sich nicht einmal besonders bewußt von Gott abgewandt hat. ,,Mein Volk hat mich vergessen, nichtigen Götzen bringt es Opfer dar", moniert Gott. Der Wertewandel schlechthin, mit dem Archetypus Gleichgültigkeit.

Der Schluß muss sein: Handeln, sofern noch Zeit bleibt.

Die geistige Situation der Gegenwart drängt den Schluß auf, dass Verantwortung zwar kein Fremdwort, aber ein Vokabel geworden ist, das man weder in der politischen Praxis noch im alltäglichen Umgang nicht mit dem gebotenen Ernst wahrnimmt. Fehlentwicklungen? Keiner hört richtig zu, man redet aneinander vorbei. Resignieren? Vielleicht liegt gerade darin eine Möglichkeit, eine neue Ethik gegeg den modernen Nihilismus zu entwickeln. Dabei sind Wachstum und kapitalistisches Wirtschaften mit den Prinzipien eines Sozialstaates einigermaßen in Einklang zu bringen.

Doch dazu braucht es nicht verhandelbare ethische Standards: Der Mensch besitzt eine Tabu-Sphäre, die von niemandem und durch nichts verletzt werden darf. Davon sind heute praktisch alle Menschen in freien Demokratien überzeugt. Der Staat als Aktionszentrum der Gesellschaft samt möglichem Gewalteinsatz zur Bewahrung der sozialen Ordnung zeigte bis vor kurzem auf dem europäischen Kontinent alle Facetten mit der Tendenz zur Staatsform der demokratisch verfassten Republik.

Russland als Nachfolgestaat der Sowjetunion bleibe auf Grund seiner Größe, seiner Bevölkerungszahl, seines wissenschaftlichen Niveaus und seiner militärischen Macht eine Großmacht. Eine Missachtung des Landes auf internationaler Ebene könne deshalb eine politische Entwicklung auslösen, die den Weltfrieden gefährde. So die Vorhersage. Und schon geschehen.

Mehr als zwei Jahre, zu lange schon, peinigt das Corona-Virus und seine Varianten die Menschheit auf der ganz Erde. Der folgende Diskurs in Wissenschaft und Politik schlug allerdings in eine Richtung aus, die man sich nicht wünschen mußte. Da man über die Problematik einer Pandemie wenig wußte, war es leicht, das Thema mit Pseudowissen für sich zu reklamieren. Die schweigende und leidende Mehrheit wurde auf diesem Gebiet zu einer desinformierten Gesellschaft.

Hier beginnt das Dilemma, das auch, wie angenommen wird, zu einer Spaltung der Zivilgesellschaft geführt hat. Es muss wohl das Bedürfnis nach Orientierung über den Zusammenhang des sozialen Ganzen hinaus, womöglich das Bedürfnis nach Ideologie sein. Es kam zu einer „bejahten Desorientierung" des sozialen Bewußtseins. Aktuell: Das europäische Problem der „Reichsbürger“.

Was hat nun all das mit „Wissenschaftsfeindlichkeit" zu tun? Es ist selbstverständlich, dass jedermann sein Grundrecht unberührt verlangt und einklagt und somit verteidigt. Die eine Seite ist nun, dass ich mit meiner Freiheit, mich zum Beispiel nicht gegen das Corona-Virus impfen zu lassen, bei einer Infektion meine Gesundheit und auch jene meiner Umgebung gefährde – womöglich bis zum letalen Ausgang. Hier stößt die Freiheit des Einzelnen an eine Grenze, die nicht überschritten werden darf. Es fehlt nun – und das ist die andere Seite – die entscheidende Einsicht, dass die angeborene Medaille der Freiheit des Einzelnen auch eine Rückseite hat, und auf der steht „Pflicht“.

Wie ist das nun alles zueinander zu bringen? Es fehlt noch ein Glied in der Argumentation das die Funktionsfähigkeit eines Staates beschreibt: das Gemeinwohl. Zu erreichen durch allseitig verwirklichte Gerechtigkeit. Und das scheint auch jener Punkt zu sein, aus dem die vorgebliche oder wirkliche Wissenschaftsfeindlichkeit entspringt. Er korrespondiert mit der Arrogierung der Deutungshoheit über die Pandemie. Es liegt die Vermutung nahe, dass die „Wissenschaftsfeindlichkeit“ auch mit schlechter oder gar keiner Information seitens der Wissenschaft zusammenhängt. Das verursacht Angst und Unsicherheit.

Was das Gemeinwohl schließlich als oberste Richtschnur allen politischen Handelns betrifft, so geht es um die Frage der Gerechtigkeit, zum Beispiel um die Arbeit. die immer weniger wird, um Eigentum und Umverteilung dessen, was der Staat, also die Politik, also das von allen gewählte Parlament und damit die Regierung, zu verteilen hat.

Gerechtigkeit heißt in der Politik „Jedem das Seine“ zuzuteilen, nicht aber „Jedem das Gleiche“ zu geben. Diese Unterschiede auszubalancieren zählt zur Staatskunst. Gelingt das in einem demokratischen Staatswesen, dann ist dies die Grundlage für den sozialen Frieden in der Gesellschaft. Sofern noch Zeit bleibt und der Krug in der Hand eines Jeremias noch nicht endgültig zerschlagen ist.

Der Salzburger Wissenschaftsjournalist Prof. Franz Mayrhofer, Jahrgang 1937, wurde 1994 mit dem René-Marcic-Preis ausgezeichnet. Er ist Salzburg-Präsident des P.E.N.-Clubs.
Bild: www.pen-salzburg.at

 

 

 

 

 

 

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