Wir sind kondensierte Zeit

IM PORTRÄT / CLAUDIO MAGRIS

01/08/10 "Jetzt habe ich wirklich das Alter", sagt Claudio Magris ironisch. Denn damals, als er 1963 sein erstes Buch "Der habsburgische Mythos in der österreichischen Literatur" vorstellte, hätten "alle einen älteren K&K-Herrn erwartet, aber ich war 24!"

Von Reinhard Kriechbaum

Claudio Magris ist heuer bei den Festspielen "Dichter zu Gast". Zum Auftakt liest heute, Sonntag (1.8.) Senta Berger im Landestheater Magris' Orpheus-und-Eurydice-Paraphrase "Verstehen Sie mich bitte recht": Da geht die Sache deutlich schlechter aus als in Glucks Oper - Dieses Orpheus' Eurydice ist im Altersheim und sie will keineswegs zurück …

Magris wurde 1939 im italienischen Triest geboren, wo gleichsam aus jedem Winkel Geschichte weht - und zwar keineswegs immer in diese Richtung, wie sie gemeinhin gedeutet und erklärt wird. "Wenn man durch Triest bummelt und beobachtet, ist das immer auch Archäologie", sagt Magris. Klar, das war auch mal Österreich, und drum ist sein Blick auch einer auf Österreich, in dem er nach dem Träume des Ersten Weltkriegs "ein Laboratorium der Widersprüche  des damaligen Europa" sieht. Aber Österreich, so erklärt Claudio Magris, sei nur ein Beispiel für den Kontinent. Man könne ähnliche Geschichte auch von Italien, von Frankreich und den anderen Ländern erzählen.

Wenn Magris in die Geschichte blickt, dann entdeckt er Jahresringen bei Bäumen gleich überdeckte, aber eben vorhandene Schichten: "Wir sind kondensierte Zeit" sagt er, und er erklärt anschaulich: Wir sagen: Shakespeare ist ein Dichter, nicht: Er war ein Dichter. Dass er gestorben ist, ist seine Sache. Seine Bedeutung bleibt." Ähnlich verhalte es sich mit Geschichte und ihrer Nachwirkung. Schreiben, so betont Magris, sei etwas gegen das Vergessen: "Wenn wir die Opfer vergessen würden, wäre das ein weiterer Gewaltakt gegen sie."

Magris nimmt regelmäßig als Essayist und Kolumnist des Corriere della Sera zu innen- und außenpolitischen Themen Stellung. Von 1994 bis 1996 saß er als unabhängiges Mitglied eines Linksbündnisses für die Region Triest im römischen Senat und gründete gemeinsam mit Umberto Eco und anderen Persönlichkeiten aus Kunst und Kultur im Jahr 2002 die Vereinigung „Libertà e Giustizia“ (Freiheit und Gerechtigkeit), um eine kritische Position zur Politik der Regierung unter Silvio Berlusconi herauszustreichen.

Trotzdem sieht Magris sich zuerst als Schriftsteller. Das politische Engagement ist ihm moralische Verpflichtung. "Die Entartung der Demokratie und des Liberalismus geht uns alle an." Die Tendenz zum Populismus, die "Parodie auf Rousseau" erfüllt ihn mit größter Sorge. "Es gibt die populistische, reaktionäre Gefahr - von rechts, von einem Rechts aber, das mit dem früheren Rechts nichts zu tun hat." Dass bisher geltende Schranken offenbar fallen - das sagt er nicht nur mit Blick auf Berlusconi oder Sarkozy - beunruhigt ihn zutiefst: "Wenn Politiker keine Angst mehr haben vor einer Verletzung der Spielregeln, vor dem Brechen mit Konventionen, ist das kein gutes Zeichen." Deutschland sei übrigens noch "frei von Pop-Politik", sagt Magris - hoffentlich nicht zu optimistisch.

Claudio Magris zählt zu den bedeutendsten Germanisten und Kulturpublizisten Italiens und den wichtigsten Literaten und Essayisten Europas. Als Professor für Deutsche Sprache und Literatur an der Universität Triest betreute er bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2006 die Übersetzung vieler deutschsprachiger Autoren ins Italienische, darunter Joseph Roth, Arthur Schnitzler und Georg Büchner.
Große Aufmerksamkeit erlangte Claudio Magris durch seine literarische Tätigkeit. Im Mittelpunkt seiner Bücher stehen die kulturelle und politische Vielfalt der europäischen Gesellschaft, die literarischen Hauptstädte Mitteleuropas und deren Bewohner. Erste internationale Bekanntheit erhielt seine 1963 publizierte Dissertation "Der habsburgische Mythos in der modernen österreichischen Literatur". Mit der Veröffentlichung seines Buches "Donau. Biographie eines Flusses" (dt. 1988) wurde Magris einem größeren Lesepublikum bekannt. Aufsehen erregte auch sein 2005 veröffentlichter Roman "Blindlings" (dt. 2007), an dem er 18 Jahre lang arbeitete.
Für sein literarisches Werk und sein kulturelles Engagement erhielt Magris unter anderem den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung (2001), den Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur (2005) und zuletzt den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels (2009). Vor vierzehn Jahren hielt Claudio Magris die Rede zur Eröffnung der Festspiele. Ob sich seither Entscheidendes verändert habe bei den Festspielen und in der Stadt? Dazu sagt Magris nichts. Er sei zwar oft hier, habe aber nie hier gelebt. Und vor vorschnellen Urteilen hütet sich einer wie er, der in seiner Heimatstadt Triest ein Leben lang mitbekommen hat, dass die Dinge in Wirklichkeit viel- und tiefenschichtiger sind, als man sie nach ein paar Blicken zu sehen glaubt.

Heute, Sonntag, liest Senta Berger Magris' Erzählung "Verstehen Sie mich bitte recht". "Das Weltreich der Melancholie" ist Thema einer Begegnung von Claudio Magris und Karl Schlögel am 4. August. Am 11. August kommt Magris mit Hubert von Goisern ins gespräch ("Donau - Biographie eines Flusses"). Jeweils 19.30 Uhr im Landestheater.
"Blick ins inner Österreich" ist verbindendes Motto von drei Filmabanden am 7., 8. und 9. August im Salzburger Filmkulturzentrum "Das Kino". An die Projektion von Streifen von Götz Spielmann, Michael Scharang und Nina Gladitz schließen sich jeweils Gespräche mit Claudio Magris an. - www.salzburgerfestspiele.at
Bild: Hanser Verlag / Peter-Andreas Hassiepen