Heimat Lungau, Heimat Krajina

GRAZ / DIAGONALE / WAS UNS BINDET, UNTEN

30/03/17 In der ersten Einstellung sehen wir die Filmemacherin Ivette Löcker auf dem Massagebett liegend. Sie wird durchgeknetet. „Wenn ich in den Lungau komme, bin ich immer gleich viel verspannter.“ Ein wenig hoffnungsvoller Beginn für ein Heimat- und Familienporträt.

Von Reinhard Kriechbaum

Ein schmuckes Haus in St. Michael im Lungau, zwei ältere Leutlein. Nach außen hin ganz proper und unauffällig. Aber: In Wirklichkeit sind die beiden geschiedene Leute. Seit achtzehn Jahren lebt er im unteren Stockwerk, sie oben. Gelegentlich gibt’s für ihn eine Bratwurst, aber sogar dann flammt Streit auf, ob die zu scharf ist oder nicht.

Ivette Löcker, in Berlin lebende Filmemacherin, hat ihre Eltern und deren Verhältnis zu ihr selbst und ihren beiden Schwestern abgebildet. Der Dokumentarfilm „Was uns bindet“ ist am Mittwoch bei der Diagonale in Graz uraufgeführt worden. Nun, was bindet die beiden Alten aneinander? Und was bindet die Töchter noch an den Lungau, der „von hier heroben“ – von der Schipiste aus – am schönsten ist, wie die Regisseurin verrät. Für die Eltern gilt: Für eine ernsthafte Scheidung fehlten Geld und Entschiedenheit, vielleicht auch die konkrete Aussicht auf einen neuen Lebenspartner. Garten, Hund, das ist der Mutter Revier und ihr kleines Glück. Er ist doppelt genügsam, es reichen ein paar Hasen im Käfig und der Hund der Beinah-nicht-mehr-Gattin, den er unerlaubterweise mit zu fetter Wurst füttert. Irgendwie reicht's nicht mal für einen häuslichen Kleinkrieg, und das ist wohl mehr als gut so.

Die Töchter haben von ihm ein desolates altes Haus überschrieben bekommen. Was damit geschehen soll? Darüber haben Vater und Töchter auch unterschiedliche Meinung, logisch. Geld im Lungau investieren, wo doch alle Jungen irgendwo anders sind?

Das ist alles herzblutig unspektakulär, die 102 Filmminuten sind eigentlich zu lang dafür. Ob dieser Film für Ivette Löcker auch ein Stück abgearbeiteter Psychohygiene bedeutet, bleibe dahin gestellt. Sie ist voll Empathie für ihre Familie. Ei wenig Sicht von außen hätte dem Film gut getan.

Da hat es Djordje Čenić raffinierter angestellt für seine autobiographische Doku „Unten“. Er hat sich mit dem Salzburger Hermann Peseckas zusammengetan. Vier Regisseurs-Augen haben mehr im Blick als zwei, und so ist „Unten“ eben nicht nur eine Familiengeschichte geworden, sondern ein ein so lebendiger wie lebensnaher Film, der einen in anderthalb Stunden auch die geographisch wie zeitlich extrem nahe liegende Geschichte ein gutes Stück besser verstehen lässt.

Djordje Čenić, Jahrgang 1975, ist als Gastarbeiterkind in Linz aufgewachsen. Da war man rasch integriert. Bei den (Linzer) Schulkollegen bewunderte er die Kinderzimmer und „die unverschämt dicken Daunendecken“, wogegen er noch als Zehnjähriger im Ehebett der Eltern schlief. Sein Traum: die Freunde einzuladen in das „unten“ - also in der Heimat der Eltern, im Hinterland von Šibenik – entstehende neue Haus. Als es so weit fertig war, brach der Krieg aus, die Serben riefen dort die Republik Krajina aus. Der Rückschlag der Kroaten war fürchterlich, die einstigen (serbischstämmigen) Dorfbewohner leben jetzt mehrheitlich in Kanada oder Australien, und ihre Häuser sind zerstört.

Wie tickt ein in Österreich Heranwachsender, der plötzlich lernt, dass er Serbe ist, dass Kroaten Feinde als Feinde zu gelten haben? Djordje Čenić ist ein kluger, selbst-reflektiver Mensch, begabt auch mit Selbstironie. Der Film ist aus neuen Aufnahmen vor Ort, aus Interviews mit Familienangehörigen, auch aus alten Homevideos quicklebendig zusammengeschnitten. Die Sicht auf die Zeitgeschichte wirkt undogmatisch. Viel Empathie auch hier, aber eben gebrochen durch Ironie und Humor. Djordje Čenić hat dann eine Schwedin geheiratet (sie ist Tochter eines österreichischen „Gastarbeiters“ in Skandinawien). Und die beiden haben vor einigen Jahren ihr Hochzeitsfest eben „unten“, im Weiler Čenići gefeiert. Endlich hat er seine Linzer Freundinnen und Freunde dorthin einladen können. So unproblematisch kann Leben auch gehen, sofern man nicht verbohrt oder politisch aufgehetzt ist. „Unten“ empfiehlt sich zumindest für die engere Wahl um den großen Diagonale-Dokumentarfilmpreis.

 

Die Diagonale, das 20. festival des österreichischen Films in Graz, dauert noch bis Sonntag, 2. April – www.diagonale.at
Bilder: dpk-krie (2); Diagonale (2)