Leise Melancholie und Postkarten-Idylle
DIAGONALE / KARL-MARKUS GAUSS
03/04/25 Karl-Markus Gauß geht auf Reisen. Er packt eine alte Aktentasche aus Leder, zwei Bücher über das Ziel kommen hinein. In ein ebenfalls ledernes Etui sicherheitshalber ein zweites Schreibutensil. Der Notizblock darf nicht fehlen. – Mit dieser Aktentasche wird Karl-Markus Gauß bald an einem Donaugestade in der Vojvodina stehen.
Von Reinhard Kriechbaum
Vor Reiseantritt beugt er sich gemeinsam mit seiner Frau über die Landkarte, um Ziele zu markieren. Und dann sehen wir Gauß auch noch Schuhe putzend auf der Stiege sitzend. Eine Reise will gut vorbereitet sein! Es geht einem durch den Kopf: grenzgeniale Selbstinszenierung!
Wieder daheim, werden die gesammelten Notizen (mit Füllfeder), Aufzeichnungen, Materialien in einem – richtig geraten: ledernen – Koffer verstaut, nicht größer als ein gerade noch erlaubtes Handgepäckstück fürs Flugzeug. Mit einem solchen reist Gauß natürlich nicht. Mit der Eisenbahn ist er viel näher an Land und Leuten. In einem seiner Reisetexte wird er dann von der „unheilbaren Eisenbahner-Melancholie“ eines serbischen Stationsvorstehers berichten, für den eine Dreiviertelstunde Verspätung des Zugs aus Belgrad symbolhaft steht für den Verlust einer kakanisch-europäischen Vergangenheit, von der offen bleibt, ob sie je so existierte.
Der Schriftsteller sitzt dann in dem gründerzeitlichen Haus in der Riedenburg am – natürlich alten – Schreibtisch. Fast könnte man neidisch werden bei so viel Stil. Zuletzt kommt ja doch der Laptop zum Einsatz. Da ist man ein bisserl enttäuscht. Es trösten Kameraschwenks, die Auskunft geben über die Gauß'sche Buchstaben-Vorratshaltung. Kartonschachteln und Schuber tragen Aufschriften wie „Zettelwerk“, „Sprachen“, „Wanderung über Friedhof“. Oder, vielversprechend, „Buch der Fragmente“. Und abschreckend „FPÖ“.
Man beginnt zu verstehen, wie Karl-Markus Gauß es anstellt, in sehr dichter Folge Buch um Buch fertig zu bringen. Er ist Jäger und Sammler von Beobachtungen und Wahrnehmungen, von Exzerpten und Fundstücken, die er sorgsam sortiert aufbewahrt. Er kann aus dem Vollen schöpfen. Biographen, Proseminars-Schreiber und Nachlass-Sichter werden es dereinst trotz der Fülle an Rohmaterial nicht schwer haben, Übersicht zu bewahren.
Bei der Diagonale, dem Festival des Österreichischen Films, wurde die Gauß-Dokumentation Schlendern ist mein Metier von Johannes Holzhausen uraufgeführt. Herausgearbeitet ist der Aspekt des Reise-Feuilletonisten. Auf die Frage, wie er auf die Ränder Europas, die scheinbar vergessenen Gegenden und das Leben von Minderheiten gekommen ist, kommt die entwaffnend ehrliche Antwort: „Vielleicht ist ein bisschen Eitelkeit dabei.“ Jedenfalls sei er nicht hingegangen, wo alle Schriftsteller-Kollegen schon waren. So kam er also zu den Sorben, Aromunen, Gottscheer Deutschen, Arabereshe und den Sepharden von Sarajewo.
Und natürlich geht es auch um die eigene Herkunft, die Region der Donauschwaben. Um die eigenen Vorfahren. In einem Dorf in der Vojvodina sucht er in einem Tauchbuch nach dem Eintrag seiner Mutter. Eine Autofähre legt an, Hunde bellen, die Sonne geht auf – oft hat Johannes Holzhausens Dokumentarfilm einen Hang zur Postkarten-Idylle. Schlendern ist mein Metier wirkt über weite Strecken fast zu schön, um wahr zu sein. Eine Spur zu kokett, um unter die Haut zu gehen.
Das sollte es durchaus, denn Karl-Markus Gauß, im Mai vorigen Jahres siebzig Jahre alt geworden, hat 2021 einen Herzinfarkt erlitten. Darüber und über die Todesangst spricht er bei einem Spaziergang über die Stadtberge Salzburgs. Auch darüber, dass er manches Rohmaterial Material nicht mehr angreift, nicht mehr literarisch überhöht. So viel Zeit bleibe nicht mehr. Eine gewisse Melancholie greift um sich. Bröckeln und Verfall nimmt Gauß vor der modernen Silhouette von Novi Sad wahr – ob diese Szene wohl gedreht worden ist, bevor im November des Vorjahres ein einstürzendes Dach des Bahnhofs vierzehn Menschen zu Tode und seither Tausende Menschen zu Protesten gegen das serbische Regime auf die Straße brachte?
Bilder: Filmstills/dpk-krie