Tradition und Eruption

JAZZFESTVAL SAALFELDEN

27/08/17 „Echt abartig hier!“, schreit eine junge Deutsche durch den Raum. Mag sein, dass der Satz auch mit einem kleinen Tumult zu hatte. Ein torkelnder Trunkenbold hatte die Live-Musiker im Saal wieder einmal provoziert und war von Intendant Mario Steidl höchstselbst an die frische Luft gesetzt worden.

Von Christoph Irrgeher

Der Satz war aber wohl eher als Kompliment gemeint. Seit einer Stunden beschallte Café Drechsler, das hippste Trio aus dem Wien der frühen Nullerjahre, mittlerweile die Bar des Saalfeldner Kunsthauses Nexus; nun, um zwei Uhr früh, war der Schankraum endgültig zur Tanzfläche mutiert. In einer Gemengelage aus Schweiß und Schall wogen also die Körper, befeuert von den Markenzeichen des Trios. Da wummern die griffigen, gefinkelten Riffs von Kontrabassist Oliver Steger, da pulsiert das Schlagzeug von Alex Deutsch an der Schnittstelle zwischen Club-Beat und Groove-Jazz, da lässt Ulrich Drechsler sein Verbrechersyndikat-Saxofon röhren und knarzen, dass es eine Freude ist. Natürlich: An sich ist das nichts Neues. Es ist aber immer noch mehr als gut genug, um nach langer Pause wieder ein Album in Originalformation herauszubringen („And Now…Boogie!“, Universal) und dem Jazzfestival Saalfelden damit in der Freitagnacht ein spätes Glanzlicht aufzusetzen.

Nebenan, im Congress Saalfelden, verläuft der erste Tag auf der Hauptbühne durchwachsen. Zwar führte der Wahlkampf dem eingeschworenen Publikum einen unverhofften Gast zu, nämlich Bundeskanzler Christian Kern: Recht sympathisch, sucht er in seiner Eröffnungsrede nach Gemeinsamkeiten zwischen kollektiven Kunstgenuss und einem roten Lieblingswort namens Solidarität. Das Eröffnungskonzert danach, traditionell mit der Uraufführung eines heimischen Jazzer bestritten, erzeugt aber nicht einheitliche Begeisterung. So sehr es Gerald Preinfalk versteht, seinen Saxofonen als Solist spontan Substanz zu entstoßen, fehlt ihm am Komponistenschreibtisch ein wenig die Balance zwischen Strukturdenken und Effekt. Sein Beitrag „Prine-Zone“, so hieß es vorab, sollte Preinfalks Jazz-Expertise ebenso Rechnung tragen wie seiner Arbeit im Bereich der „Neuen Musik“ – seit der Jahrtausendwende ist der Virtuose mit dem brennenden Ton ja auch Mitglied des Klangforums Wien. Das Saalfeldener Programm, zu einem Drittel ausnotiert, leidet allerdings an einer holzschnittartigen Struktur. Mal entsteht da, in Form von Neuton-Zitaten, eine Art Klangforum-Simulation, mal öffnet sich ein weiter Klangraum für die Ausdrucksvokalisen von Savina Yannatou, mal erhält dieser oder jener Jazzer über wüstem Schlagzeug-Gebrodel ein Improvisationsfenster. Sicher, diese Musik entwickelt Kraft und Wucht. Sie schafft aber eher Slots für Solisten, als dass sie das koloristische und kammermusikalische Kapital der Nonett-Besetzung (mit Cello, Horn und Flöte) wirklich auskosten würde.

Danach lässt sich die Band Møster zwar gut an mit ihrem Jazzrock. Auch optisch eine Reverenz an die alten Langhaar-Tage, verorten sich die Norweger irgendwo zwischen King Crimson und den frühen Pink Floyd und reichern diesen Standpunkt mit Jazzdissonanzen an. Allerdings: Schwere Grooves werden hier in einer Ausführlichkeit zelebriert, dass das Ablaufdatum ihrer Faszinationskraft rasch erreicht ist. Was danach fehlt, ist ein Sänger. Der Klavierminimalist Chris Abrahams wiederum hält Abwechslung überhaupt für überschätzt und sich selbst und sein Trio so lange mit Tremolos auf, bis sich publikumsseitig eine Sedierung einstellt, unter der sich wohl auch innere Organe amputieren ließen.

Wesentlich mehr Abwechslung bietet der Samstag, und er fängt schon am frühen Nachmittag damit an. Ungeachtet der Uhrzeit stellt die Norwegerin Sinikka Langeland die Zeichen auf Geisterstunde und gibt mit fahlem Wallehaar die Druidin am Lagerfeuer. Tiere und Geister hausen in ihrem „Magical Forest“, den die 56-jährige Sängerin mit knorriger, ü-lastiger Folklorestimme beschwört und gelegentlich die Kantele zupft – ein hölzernes Saiteninstrument, das aussieht wie ein tastenloses, skalpiertes Cembalo. Schlagzeuger, Trompeter und ein Saxofonist im Rübezahl-Look treiben den streckenweise hypnotischen Mysteriendienst in das Fahrwasser eines Jan-Garbarek-Jazz.

Umso beherzter steigen die vier Landsleute von Cortex aufs Gas und überdrehen den Motor mit Lust, aber nicht ohne Hirn. Mit Bebop-Nummern, die oft im freien Ungestüm von Saxofon und Trompete münden und in diesen Phasen mit Comic-Ausdrücken wie Krächz! Sprotz! Bratzel! zu umreißen wären, betreibt das Quartett eine Art Vergangenheitsüberwältigung. Auch der US-Pianist Brian Marsella balanciert zwischen Tradition und Eruption. In klassischer Trio-Besetzung und mit Stücken von John Zorn zu Gast, steigert er sich mit Orient-Arabesken und wüsten Klangstürmen zu Momenten tranceartiger Intensität. Dabei zeigt sich wieder einmal angenehm: Saalfelden, seit jeher der Klang-Ekstase zugetan, lädt erfreulicherweise kaum noch Wüteriche ein, die konzeptfreie Lärmereien anzetteln und so im rasenden Stillstand enden.

Dass Saalfelden auch die Stilfusion liebt, erklärt wohl die Anwesenheit von 5K HD. Hinter dem Kürzel steckt vor allem die Wiener Band Kompost 3, die seit einigen Jahren Elektronik mit Jazzrock kurzschließt. Im Verbund mit Mira Lu Kovacs als kühler Rätselsphinx am Mikrofon erzeugen ihre Pluckerbeats und schweren Grooves nun allerdings einen an Portis- und Radiohead geschulten Alternative Rock. Der gereicht wohl entsprechenden Festival zum Vorteil, bleibt in Saalfelden, dieser Schutzzone für die spontane, eigenwillige Hervorbringung des Augenblicks, aber ein Fremdkörper.

Was auf dieser Bühne eigentlich zu den Fixelementen zählt, heuer aber leider nicht auftaucht: Der Besuch eines ergrauten US-Granden. Immerhin – der lange verstorbene Charles Mingus kommt in einem Projekt vor. Dass es Furore macht, hat allerdings anderer Gründe. „Kryptografie. Notizen eines alten Mannes, der zufällig Charles Mingus heißt“ erweist sich als stilsicheres Melodram. Schauspieler Hartmut Stanke rezitiert eine Art literarischen Einfühlungsversuch in das Innere des todkranken, von ALS paralysierten Mingus, macht das immer noch vulkanische Ungestüm des erstarrten Giganten und seinen paranoiden Hass auf die Weißen spürbar. Eine brodelnde Innenwelt, die sich ebenso im dunkelglosenden, von einem greinenden Cello überlagerten Bassklarinette-Spiel von Michael Riessler spiegelt und im pochenden Schlagzeugdonner zu letztem Furor steigert: überwältigend.

Heute, Sonntag (27.8.), klingt das Jazzfestival Saalfelden unter anderem mit Auftritten von Wolfgang Puschnig, Karl Ritter und Martin Küchen aus – https://www.jazzsaalfelden.com/de
Bilder: Jazzfestival Saalfelden / Matthias Heschl
DrehPunktKultur-Gastautor Christoph Irrgeher ist Kulturredakteur der Wiener Zeitung