Hören. im Moment

DOKUMENTATION / PAUL HOFHAIMER TAGE / ERÖFFNUNGSREDE

02/06/12 Der Komponist und Medienkünstler Hannes Raffaseder hielt am Freitag (1.6.) die Eröffnungsrede bei den 26. Paul Hofhaimer Tagen in Radstadt. Das Hören und das Zu-Hören, der aktive und passive Konsum von Klang, Ton und Geräusch beschäftigt ihn. Er hat auch Klanginstallationen für das Radstädter Festival geschaffen.

Von Hannes Raffaseder

Beim Nachdenken über das Hören fällt mir zunächst unweigerlich immer wieder auf, dass in unserer Zeit, in unserer Gesellschafft anscheinend ohne Bilder gar nichts mehr geht.  Kein Popkonzert ohne Bühnenshow, kein Hit ohne Videoclip, keine CD ohne gestyltes Cover. Selbst im Bereich der klassischen Musik ist das optische Erscheinungsbild der MusikerInnen für den kommerziellen Erfolg von großer Bedeutung, und immer öfter werden auch klassische Konzert mit oft eher einfallslosen Visualisierungen „behübscht“.  Also auch dort, wo es eigentlich ausschließlich um Musik gehen sollte, gibt oft schon das Auge „den Ton an“. Bildschirme sind allgegenwärtig. Immer mehr Informationen und Inhalte werden visuell vermittelt. Zu Beginn der 1990er Jahre waren Vorträge an Universitäten die wohl häufigste Form des Unterrichts. Der Einsatz visueller Medien war die Ausnahme. Die volle Aufmerksamkeit der Studierenden war auf die akustische Wahrnehmung der Sprache fokussiert.

Mittlerweile scheinen visuelle Präsentationen an Wichtigkeit gewonnen zu haben, und  Zuhören über einen längeren Zeitabschnitt macht vielen Menschen zunehmend Schwierigkeiten. Zumindest bei oberflächlicher Betrachtung scheint unsere Welt – oder besser: wie wir diese wahrnehmen –vorrangig von visuellen Sinneseindrücken dominiert. Es stellt sich also die Frage, welche Bedeutung dem Hören heute überhaupt noch zukommt. Musik scheint für viele Menschen nur mehr Begleiterscheinung oder Tapete zu sein, die unterwegs im  Auto, beim Laufen, neben dem Haushalt oder der Arbeit, als Hintergrundbeschallung im Lokal oder Supermarkt gehört wird.

Oder provokant gefragt: Wer sind denn die Menschen, die sich am bewussten, konzentrierten und fokussierte Zuhören von Musik oder Literatur erfreuen oder gar aufmerksam und lustvoll den vielfältigen Klängen der Natur lauschen? Ist das in einer visuell dominierten Gesellschaft nicht reine Zeitverschwendung, rückständig und „uncool“?

Ich denke, wir wissen es besser: Die Kunst des Zuhörens ist ein Geschenk, Zeit mit Musik zu verbringen ein vergleichsweise kostengünstiger Luxus. Musik oder genauer das Hören von Musik verzaubert, verführt, berührt, beruhigt oder stimuliert uns immer wieder in vielen verschiedenen Moment unseres Lebens. Wir kennen alle diese fesselnden Momente, bei denen uns bestimmte Stellen von Musik sprichwörtlich die Gänsehaut aufsteigen lassen oder uns mitunter gegen unseren Willen zu Tränen rühren. Uns in Musik mehr oder minder zu vergessen, uns von Musik leiten, quasi fernsteuern zu lassen, erfordert mitunter nicht einmal große Kunstfertigkeit.  Es reichen dafür oft auch primitive Rhythmen, dumme Songs, wie es meine Freistädter „Kollegen“ – ich darf aus nicht mehr ganz aktuellem Anlass darauf hinweisen – wieder einmal eindringlich bewiesen haben. „Woki mit Deim Popo“  bringt mit Leichtigkeit tausende Menschen in den Diskos, Schihütten oder vor den Fernsehschirmen zum Tanzen, Mitklatschen oder zum ausgelassenen „U – U“ Schreien.  In solchen Moment befinden wir uns ganz offensichtlich im vielzitierten, sprichwörtlichen „Rausch der Musik“, dem man sich selbst dann nur schwer entziehen kann,  wenn einen die dargebotene Show eigentlich abstößt.

Die große Kraft, die Magie von Klängen und Geräuschen zeigt sich aber auch in ganz anderen Bereichen. Der Produkt-Sounddesigner Friedrich Blutner konnte beispielsweise in seinen wissenschaftlich fundierten Untersuchungen zeigen, dass das knackige Geräusch beim Biss in ein Frankfurter Würstchen die Geschmacksempfindung stärker beeinflusst, als die Zutaten und Gewürze der Wurstmischung.

Auch die kleinen Unterscheide zwischen pffft und bvvvvvv, die ganz feinen klanglichen Nuancen verschiedener Spraydosen hatten, zumindest einer umfassenden Studie zu folge, mehr Auswirkung auf die Beurteilung der Qualität von Deodorants, als deren Inhaltsstoffe.

Dass uns richtig eingesetzte Kaufhausmusik dazu verleitet bzw. manipuliert, mehr Geld auszugeben, ist hinlänglich bekannt. Auch die Tatsache, dass Musik im Film nicht nur die Stimmungen bestimmt und unsere Emotionen leitet, sondern die Bedeutung einer Szene völlig verändern kann. Ich selbst mache in diesem Bereich immer wieder Experimente. Ein und dieselbe Filmszene, die von mindestens 300 Studierenden mit Hektik und Stress verbunden wurde, bedeutete mit einer anderen Musik für ebenso viele Ruhe und Entspannung.

Mittlerweile wird auch die in fernöstlichen Kulturen seit Jahrtausenden bekannte heilende Wirkungen von Musik in unserer westlichen Schulmedizin immer öfter erfolgreich eingesetzt.

Was macht also die Besonderheiten, den Reiz des Hörens aus? Verschiedenste Wissenschaftsdisziplinen von Musikwissenschaft und Psychologie über Akustik, Audiotechnik und Mediengestaltung bis hin zur Neurowissenschaft beschäftigen sich intensiv mit dieser Frage. Wenn sie – wie ich hoffe – den wahren Geheimnissen noch lange nicht auf die Spur kommen, so liefern sie doch viele interessante Teilantworten.

Ein wichtiger Aspekt ist dabei die „Omnipräsenz des Hörens“. Wir können die Ohren weder verschließen, noch können wir uns irgendwie abwenden. Ob wir wollen oder nicht, sind wir genau genommen permanent zum Hören gezwungen, auch wenn es zumeist unbewusst erfolgt.  Während die visuelle Wahrnehmung ein bewusstes Hinsehen, also ein aktives Erschließen und Erfahren der Umgebung erfordert, dringt die akustische Umwelt quasi automatisch in uns ein. Oder wie es Lorenz Oken  (1779-1851) bereits Anfang des 19. Jahrhunderts ausdrückt: „Das Auge führt den Menschen in die Welt, das Ohr führt die Welt in den Menschen ein.“

Die akustische Szenerie in einem Raum ist für alle Menschen weitgehend gleich. Schallsignale können deshalb auch eine verbindende, kollektivierende Wirkung haben. Besonders deutlich wird das, wenn sich viele Menschen zur Marsch- oder Tanzmusik quasi ferngesteuert im Takt bewegen. Dass die darin liegende manipulative Kraft von Klängen und Geräuschen oft auch missbraucht wird, darf in diesem Zusammenhang natürlich nicht unerwähnt bleiben. Auch die deutsche Sprache gibt darauf einige Hinweise, wenn es etwa heißt: „jemanden hörig sein“, „das gehört mir“, „jemand wird verhört“, „du musst gehorchen“ oder „das ist doch unerhört“.

Eine weitere ganz wichtige Besonderheit des Akustischen ist der Zusammenhang bzw. die Abhängigkeit von akustischen Ereignissen mit Veränderung und Vergänglichkeit. Jedem Klang geht eine spezifische Anregung, eine Bewegung eines Körpers, einer Schallquelle voraus. In einem leblosen, völlig statischen Umfeld würde sprichwörtliche „Totenstille“ herrschen. Im Umkehrschluss sind akustische Ereignisse somit immer auch Ausdruck von Vitalität und Leben, in denen sich unsere Bewegungen und unsere Körperlichkeit, und somit auch unsere Leidenschaften oder unsere Trauer, ganz Allgemein unsere Stimmungen und Emotionen, spiegeln.

Während wir beispielsweise die 1505 von Leonardo da Vinci gemalte Mona Lisa nach wie vor quasi im Original bewundern und Kunsthistoriker seit Jahrhunderten auch jedes kleine Detail studieren können, ist Schallenergie in ihrer ursprünglichen Form grundsätzlich flüchtig. Im Gegensatz zu visuellen Objekten verklingen akustische Ereignisse bekanntlich innerhalb kürzester Zeit, sobald die auslösende Ursache nicht mehr besteht. Deshalb ist wohl auch die menschliche Erfahrung von Zeit stark mit dem Hören verbunden, und Musik, als wohl älteste zeitbasierte Kunstform zielt oft auf die Beeinflussung unseres Zeitempfindens ab. „Hören. Im Moment“ kann in guten Konzerten daher auch wesentlich länger dauern als der kurze „Augenblick“ der sonst unsere Gegenwart bestimmt.

Klänge und Geräusche mussten also stets zeitgleich mit ihrer Entstehung und Ausbreitung – also im Moment,  jetzt oder nie – wahrgenommen werden. Dass Musik uns zu Tränen rühren oder freudig erregen kann, also oft ganz unmittelbare, körperliche und emotionale Wirkungen auslöst,  ist vermutlich auch in dieser Gleichzeitigkeit von Entstehung, Ereignis und Rezeption begründet. Es war lange technisch unmöglich, Klänge und Geräusche zu speichern und zu archivieren. Wir mussten sie im Gedächtnis behalten, um sie dort für uns zu bewahren. Wahrscheinlich können wir uns Klänge und Musik deswegen auch sehr lange merken und – ähnlich wie bei manchen Düften – über sie auch ganz spezifische Erinnerungen wieder wachrufen. Beispielsweise kennen wir aus der Kinder- und Jugendzeit bestimmt noch zahlreiche Lieder auswendig, selbst wenn wir diese Jahrzehnte lang nicht gesungen haben. Hören oder Singen wir sie wieder, fühlen wir uns mitunter in diese Zeiten zurückversetzt. Nebenbei bemerkt wird dieser Zusammenhang von Klang, Gedächtnis und Erinnerung auch in der Werbung und in Film immer wieder gezielt eingesetzt.

Erst seit rund 130 Jahren kommen viele Besonderheiten des Hörens immer mehr ins Wanken. Die Erfindung des Phonographen durch Thomas A. Edison im Jahr 1877 markiert den Beginn einer rasanten Entwicklung von Audiotechnologien für die Aufnahme, Wiedergabe, Speicherung und Distribution von akustischen Ereignissen.

Mittlerweile kommt Musik aus dem World Wide Web, so wie Wasser aus der Leitung und wir tragen riesige Schallarchive in unseren Westentaschen mit uns herum. Dass sich dadurch unserer Hörgewohnheiten ändern, ja ändern müssen, ist evident. Aktives „Hören. Im Moment“, also jetzt oder nie, wird vielfach durch passiven Musikkonsum ersetzt, der nebenbei, ganz beliebig, wann und wo auch immer erfolgt.

Um überhaupt Musik hören zu können, musste man vor gar nicht so langer Zeit entweder selber singen und musizieren oder mitunter weite Wege in Kauf nehmen, um musikalischen Darbietungen beiwohnen zu können. Heute ist es eher umgekehrt: Wir müssen weite Wege in Kauf nehmen, um der Musik zu entfliehen, um endlich einmal etwas Ruhe zu haben.

Igor Strawinsky brachte den Möglichkeiten der Schallaufzeichnung zwar großes Interesse entgegen, hat aber dennoch schon 1935 in einem Interview vor den Gefahren folgendermaßen gewarnt: „Die Verbreitung von Musik durch technische Aufnahmeverfahren ist eine beachtliche wissenschaftliche Neuerung, die aber aufgrund der Mühelosigkeit, mit der jedermann überall ohne Anstrengung alles hören kann, auch eine große Gefahr darstellt. Der Haken des Fortschritts liegt in eben diesem Fehlen von Anstrengung, besonders in der Musik, die nur von denen verstanden werden kann, die sich aktiv mit ihr auseinandersetzen.“

„Hören. Im Moment“, dieses so wichtige Motto des Festivals ist eine Fähigkeit, für die wir uns einsetzen sollten, die wir uns vielleicht erst wieder mit der von Strawinsky eingeforderten Anstrengung erarbeiten müssen.

Bild: www.raffaseder.com / Kurt Höbst
Zum Porträt Hannes Raffaseder Der „Big Ben“ von Radstadt?
Zum Programm der 26. Paul Hofhaimer Tage (bis 9.Juni in Radstadt): www.daszentrum.at