Apokalypse und Eigenheim

BUCHBESPRECHUNG / HELMUT NEUNDLINGER

30/10/20 Corona-Literatur wird kommen sagen die einen. Ja, aber bitte erst in fünf bis zehn Jahren sagen die anderen. Gut Ding will schließlich Weile haben. Helmut Neundlinger sind dergleichen Ratschläge herzlich egal. Mit seinem Lyrikband Virusalem. Gesang aus dem Bauch des Wales reiht sich der gebürtige Oberösterreicher in die vorderste Front derer, die versuchen, der konfusen Gegenwart ein Stück Literatur abzuringen.

Von Katharina Bruckschwaiger

Wirft man einen Blick auf die Literaturgeschichte, sind es häufig Zeiten der Verunsicherung, die neue literarische Formen hervorbringen oder zumindest dafür sorgen, dass über die bestehenden trefflich gestritten wird. Wenn nun aber der Klappentext von Neundlingers aktuellem Werk grübelnd fragt, wie denn die Sprache auf das durchseuchte Jahr 2020 reagiere, müssen seine Leserinnen und Leser zwangsläufig enttäuscht werden. Der 73 Seiten starke Lyrikband mit Prosa-Einschüben liefert darauf nämlich keine Antwort. Er deutet noch nicht einmal Möglichkeiten an.

Virusalem präsentiert sich trotz all seinen Gegenwartsbezügen erstaunlich zeitentrückt. Das offensichtliche zuerst: Freilich, hier fehlt die reflexive Distanz zur noch voranschreitenden Krise (Feuilletonistinnen und Feuilletonisten diverser Zeitungen haben zu diesem Thema bereits ihre eigenen Warnampeln geschaltet.) Doch das ist nur ein Teil des Problems. Neundlingers freie Verse verlassen sich auf subjektzentrierte Alltagsbetrachtungen, die dermaßen beliebig ausfallen, dass sie mit gleicher Wahrscheinlichkeit und mit gleichem Recht heute, morgen, übermorgen, in fünf Jahren oder überhaupt nie stattfinden könnten.

Vielleicht hat der Autor ja auf James Joyce gehört der seiner Kollegenschaft einmal dazu geraten hat, das Allgemeine im Besonderen zu suchen. Allgemeiner als der potenziell bedrohlich gewordene Griff ins Gesicht wird’s in Virusalem aber leider nicht – und besonderer auch nicht.

Damit man sich nicht mit flapsigen Krisenandeutungen zufriedengeben muss, schlagen die Texte in regelmäßigen Abständen entgegengesetzte Töne an. Prosaprotokoll-Einschübe schwören Katastrophenszenarien herbei, die im Grunde nur darauf hoffen lassen, dass nach dem „Day after tomorrow“ das Erdenrund noch in der Umlaufbahn kreist. Auch auf die Heuschreckenplage – dem bibelbewährten Dauerbrenner unter den wirklich ganz, ganz schlechten Zeichen – verzichtet Neundlinger nicht. Auf Differenz in der Darstellung dafür umso mehr. Die überladene Hollywood-Motivik hat keine Lust auf Zwischenfarben und sorgt dafür, dass die Texte im luftleeren Raum zwischen hier und sehr weit weg wandeln.

Vielleicht hätte Virusalem davon profitiert, sich seiner Thematik strukturell anzunähern, statt schreibend einer Pandemie hinterher zu jagen, die inhaltlich (noch) kaum greifbar ist. Dafür dürfte die Zeit aber wohl tatsächlich zu knapp gewesen sein.

Bild: Verlag Müry Salzmann / Klaus Pichler
Helmut Neundlinger: Virusalem. Gesang aus dem Bauch des Wales. Verlag Müry Salzmann, Salzburg 2020. 19 Euro, 73 Seiten - www.muerysalzmann.com