C wie Constitution

LESEPROBE / KARLHEINZ ROSSBACHER / LESEN UND LEBEN

19/03/13 Lesen und Leben sind eins für den Germanisten Karlheinz Rossbacher. Rossbacher erzählt aus seinem Leben, schrieb aber keine gewöhnliche Autobiographie, sondern wob das Bild eines Lebens aus einzelnen Erinnerungen, deren Stichworte nach dem ABC angeordnet sind: Kindheit und Jugend in Kärnten, Studium und akademische Laufbahn, Erlebnisse im Amerika der 60er Jahre und in der Sowjetunion 1978, Erfahrungen mit Kino, Tinnitus, Lampenfieber und Familiengeschichte – über der persönlichen Geschichte kommt die Geschichte des 20. Jahrhunderts in den Blick. - Hier eine Leseprobe zum Buchstaben C.

Von Karlheinz Rossbacher

Die „Constitution“ und die „Independence“ waren Schwester-Linienschiffe im Eigentum der US-amerikanischen Regierung, daher ihre verfassungsbewussten Namen. 1951 in Dienst gestellt, fuhren sie unter der Bezeichnung  American Export Lines, später American Export Isbrandtsen Lines, zwischen Neapel, Genua und New York. Auf der „Constitution“, im August 1963, überquerte ich, dreiundzwanzig Jahre alt, voll Erwartung und auch ein wenig Befangenheit, zum ersten Male den Atlantik.

Wer jemals auf einem Linienschiff von, sagen wir, 30.000 Bruttoregistertonnen gefahren ist, ein konkretes Ziel und ein ganzes Jahr in einem anderen Land vor Augen, kann auf den heutigen Kreuzfahrtschiffen, acht und mehr Decks hoch, dazu noch einige unter der Wasserlinie, nur enttäuscht werden. Dass diese Wohnsilos und Animations- und Wellnesstempel überhaupt schwimmen, merkt man, so höre ich, kaum. Hingegen hatte man auf jedem Punkt der „Constitution“ das Gefühl, auf einem Schiff zu sein. Man fuhr auf einem regulären Verkehrsmittel sieben Tage und Nächte lang immer geradeaus. Die Schiffsschrauben sorgten für grün-weiß schäumendes Kielwasser, rundherum der Himmel für blaues. Jeden Tag stellte man die Uhr eine Stunde zurück, das Zeitgefühl blieb ungestört.

Das war es wohl: In einem anderen Land ging man an Land, anstatt dort wieder auszusteigen, wo man eingestiegen ist. Eine Erfahrung, die ich nie mehr vergessen habe: Einschiffung in Genua, kurze nächtliche Ankerung vor dem hell erleuchteten  Cannes, ein paar Stunden Stopp vor Algeciras, sanft schaukelnd gegenüber von Gibraltar, dann zwischen zwei Azoreninseln hindurch, gerade als die „Independence" entgegenkam und beide Schiffe einander mit ihren Sirenen grüßten.
Brandungsgischt in der Ferne wie Lipizzaner, die an Land zu hüpfen versuchen und zurücksinken. Etwas später sah man Atemfontänen von zwei Walen, dazu eine ganze Reihe von synchron schwimmenden Delphinen. Dann kam „Beulah“. Es war, dem Alphabet gemäß, der zweite Hurrikan der Saison. Alle Hurrikane trugen damals – das blieb bis 1979 so – englische weibliche Vornamen, God knows why, die deutsche Grammatik weiß es auch nicht. Erst sechzehn Jahre später kamen Hurrikane zu männlichen Vornamen, und auch das nur im Wechsel mit weiblichen. Der Kapitän hielt das Schiff an Beulahs Rand, großräumig auszuweichen hätte viel Zeit und Geld gekostet. Riesige Wellen, nasses Deck, einige grüngelbe Gesichter, einige leere Plätze  im Speisesaal, dann war es abgetan.

Passagiere auf der „Constitution“ waren unter anderem auch Alfred Hitchcock und Harry Truman gewesen. Im April 1956 fuhr Grace Kelly auf ihr nach Monaco, um Fürstin zu werden. Das Schiff war, so erzählte uns der Tischsteward, des Öfteren Schauplatz von Szenen in Hollywood-Filmen, unter anderem mit Cary Grant. Im Jahr 1951, kurz nach seiner Indienstnahme, trug es den erst in unseren Tagen wieder entdeckten großen Schriftsteller Sándor Márai, der in seiner Heimat Ungarn den kommunistischen Machthabern missliebig geworden war, mit seiner Frau ins amerikanische Exil. Niemand dürfte gewusst haben, wer sie waren. Dass noch vor dem Stapellauf ein gewisser Lyonel Feininger eigens für ein großes Wandbild verpflichtet worden war, sagte uns nichts.

Wir – das war eine Gruppe von ungefähr zwanzig jungen, erwartungsfrohen, ziemlich ahnungslosen und, ja, glücklichen Studierenden aus österreichischen Universitäten. Der Name des Schiffs, fand ein Wortspielbegabter, passte zu uns, denn wir waren jung und in guter Verfassung. Und Passagiere waren wir, weil im Jahre 1950, unter der Federführung des Senators William Fulbright, ein wissenschaftliches und kulturelles Austauschprogramm zwischen den Vereinigten Staaten und Österreich ins Leben gerufen worden war.

Mit freundlicher Genehmigung des Otto Müller Verlages.

Karlheinz Rossbacher: Lesen und Leben. Ein persönliches Alphabet. Otto Müller Verlag, Salzburg 2013. 304 Seiten, 22 Euro - www.omvs.at

Karlheinz Rossbacher präsentiert "Lesen und Leben" heute Dienstag (19.3.) um 19.30 im Rahmen einer gemeinsamen Veranstaltung des Fachbereiches Germanistik und des Otto Müller Verlages in der Bibliotheksaula in der Universitätsbibliothek