Marmelade dem Löwen ums Maul

Weiße Flecken scheint es auf der Erde nicht mehr wirklich zu geben, einerseits. Andererseits hat der Leser, wenn er diesen Roman gelesen hat, durchaus das Gefühl, mehr gesehen zu haben, als auf der Erde überhaupt Platz hat. - Hier eine Leseprobe aus einem wahren Meisterwerk der Fabulierkunst.

Von Erwin Einzinger

Das Leben eilt voraus

In unmittelbarer Nähe des Quartiers, in dem sie nach etlichen Tagen des Weitwanderns abstiegen und bald darauf einschliefen, gab es eine Art Kurzzeit-Erholungsstätte für Sucht- und Nervenkranke, die viel telefonierten und lasen, manchmal auch Steckschach spielten. Im Foyer wedelte jemand mit Scheinen. Die Rezeption war zeitweise unbesetzt.

Einer erzählte von zwei singenden Sportlerinnen, trat dabei von einem Bein auf das andere. Später meinte eine ziemlich Blasse in welchem Zusammenhang auch immer: „Ach, wir haben alle schon genug gebeichtet, vor vielen Jahren, gerne und gut …“ Und: „Es ist bloß eine ganz besondere Art von Traurigkeit, die uns bisweilen niederdrückt und nicht selten beinahe die Gelenke auszukegeln droht, bis wir merken, wir haben uns wahrscheinlich alles bloß eingebildet. Aber was ändert das?“

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Die beiden Wandersleute bewegten sich in unterschiedlich langen Etappen fast durch halb Europa, durch voralpine Regionen und Erholungszentren, durch Schneelandschaften und an dumpfen Mooren vorbei, hinter denen der Autobahnlärm rauschte. Und als triebe eine blinde Macht sie voran, übernachteten sie kaum zweimal hintereinander in derselben Herberge.

Einmal zogen sie an den Ausläufern des Tennengebirges vorbei, durch blasse Fluren, über schmale Brücken, unter denen manchmal noch Schneereste lagen und an die sich kurz vor dem Austreiben stehende Weidenbüsche drückten. Unter dem zusammengewehten Laub des Vorjahrs schob sich, die graubraunen Blätterlappen langsam emporschiebend und manchmal auch durchbohrend, das junge Gras hervor. Auch Birke, Faulbaum und Erle waren schon in Bereitschaft. Hinter einem Gasthof rangen zwei Weiber.

In einem Tankstellenbeisl stand ein leicht Gebückter, unrasiert, schien in Selbstbetrachtung versunken zu sein, die Hand an der Bierflasche. Auch der Mann an der Kasse war in Gedanken vermutlich sehr weit weg, sein Blick ging durch die Scheibe, als wäre sie das Glas eines riesigen Aquariums.

Wenige Meter davon entfernt preßten zwei schmallippige junge Leute, während sie darauf warteten, daß der Sprit in den Tank floß, ihre Körper aneinander, um sich zu wärmen oder zu erregen.


Butterkeks

Eine Kolonne hupender Wagen fuhr vorbei, offenbar eine Hochzeitsgesellschaft. Viele der Kühlerhauben waren mit aufgeklebten Blumengestecken geschmückt, und die Leute, denen der Konvoi entgegenkam, lächelten, als wären sie erleichtert. Ein Hund jagte den Fahrzeugen aufgeregt bellend ein Stück hinterher, und dann kam ein Radfahrer, der Ohrenschützer trug, obwohl durchaus mildes Wetter war.

Hinter dem Münster saß eine junge Dame auf jener Bank, die zu den Stufen schaute, über welche man aus dem unteren Stadtteil zum kopfsteingepflasterten Münsterplatz heraufkam. Hielt sie ihre Beine, während sie rauchte, absichtlich leicht gegrätscht, sodaß der Slip von weitem zu sehen war?

Auch bei einem vielbejubelten Konzert einer britischen Gitarrenband mit schottischer Gastsängerin in kariertem Kurzkleidchen wenige Tage zuvor in derselben Stadt entstand der Eindruck, die junge Frau am Mikrophon habe alles andere im Sinn, als aus der Farbe ihres Slips etwa ein Geheimnis zu machen.

Minuten später schlenderte die Raucherin am Münster vorbei zu den Parkplätzen hinüber, ging auf einen leicht abschüssig stehenden schwarzen Mercedes älteren Baujahrs zu, kramte ein wenig in dessen Kofferraum herum, bevor sie in eine der engen Seitengassen einbog, wo es Cafés und etliche Antiquariate gab.

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Ein kleines Goldfischbecken, dessen Boden ein Mosaik aus Fliesenbruchstücken zierte. Die Tochter des Hauses putzte sich gerade erst die Zähne, tanzte dabei wie in Gedanken versunken über die Terrasse und verschwand durch die offene Tür. Kurz darauf kam sie in Shorts und einem knappen Leibchen wieder heraus, wollte mit dem jüngeren Bruder Tischtennis spielen, der ein wenig aussah, als habe er bis tief in die Nacht hinein vor einem Gruselfilm ausgeharrt.

An der nahen Endstation der städtischen Buslinie stand indes einer und kotzte sich am frühen Vormittag die Seele aus dem Leib. Ein steter Strom gedämpfter Geräusche war die ganze Zeit über zu hören, die aus der Stadt herauszurollen schienen bis an ihre Ränder, unterspült von einem wie aus großer Ferne kommenden gleichmäßigen Brummen.

Steinerner Haß in den Augen des Busfahrers, der die Türen bereits aufzischen ließ, als der Wagen noch gut zwanzig Meter von der Haltestelle entfernt war. Ein Mann mit einer Zugposaune in einem etwas zerschrammten Instrumentenkoffer stieg aus und ging quer über den Grasstreifen auf das eingezäunte Grundstück zu. An einem der Fenster des Hauses vor ihm wurden gerade die Jalousien hochgezogen. In der Zufahrt, die mit runden Betonplatten ausgelegt war, stand ein Firmenwagen mit einer Reklameaufschrift, die für eine bekannte Butterkekssorte warb.

Mit freundlicher Genehmigung des Jung und Jung Verlages
Erwin Einzinger: Von Dschalalabad nach Bad Schallerbach. Roman. Verlag Jung und Jung, Salzburg 2010. 472 Seiten, 24 Euro.

Buchpräsentationam: Heute Freitag, 5. März, 20 Uhr: Erwin Einzinger liest auf Einladung des Literaturvereins Prolit in der Rupertus Buchhandlung aus seinem neuen Roman.