Lieber nicht den Faden verlieren...

LESEPROBE / PUSTET / SALZBURGER BAUERNKALENDER

16/09/15 … und sich auch tunlichst nicht verhaspeln! Im „Salzburger Bauernkalender“ schreibt Tanja Kühnel über diese elementare bäuerliche Tätigkeit, von der Mahatma Gandhi sagte: „Ich glaube, das Garn, das wir spinnen, ist in der Lage, die Risse im Gewebe unseres Lebens zu flicken.“ Eine kleine Kulturgeschichte.

Von Tanja Kühnel

Das Spinnen war in früheren Zeiten eine Notwendigkeit des bäuerlichen Lebens und ein funktionsfähiges Spinnrad war ein wichtiges Werkzeug jedes jungen Mädchens. Oft waren reich verzierte Spinnräder deshalb Hochzeitsgeschenke, damit die Frau für die Kleidung ihrer Familie sorgen konnte. Schon in jungen Jahren mussten die Mädchen beginnen, Flachs für ihre Aussteuer zu verspinnen.

Wanderweber, die mit ihrem Webstuhl von Hof zu Hof zogen, verwoben dann das Garn zu Leinen, welches bis zur Hochzeit im Aussteuerschrank verwahrt wurde. Da die Herstellung von Leinen wesentlich aufwendiger ist als das Verarbeiten von Schafwolle, war ein gut gefüllter Aussteuerschrank die Wertanlage jeder jungen Braut. Die gröbere Schafwolle wurde für Kleidung des täglichen Bedarfs verwendet. Viele Sprichworte des heutigen Sprachgebrauchs gehen auf das Spinnen oder die Verarbeitung von Fasern zurück. Wenn man nicht mehr weiter weiß, dann hat man „den Faden verloren“ oder „man hat sich verhaspelt“.

Das Spinnen im bäuerlichen Umfeld war immer auch eine soziale Tätigkeit. Unverheiratete Mädchen trafen sich mit den Spinnrädern in einer Spinnstube, die abwechselnd in verschiedenen Höfen abgehalten wurde, um gemeinsam zu spinnen, Geschichten zu erzählen und Lieder zu singen. Waren Burschen zugegen, so waren die Spinnstuben auch Treffpunkt, um eine Beziehung anzubahnen, was vielerorts nicht gerne gesehen war. Spinnstuben hatten vor allem in Deutschland einen schlechten Ruf, galten sie als Ort der Unsittlichkeit und Ausschweifungen.

Die Tätigkeit des Spinnens wird in allen europäischen Hochkulturen mit dem menschlichen Schicksal verknüpft. Sind es in der nordischen Mythologie die Nornen, die das Schicksal der Menschen spinnen, so tauchen sie bei den Römern als Parzen und bei den Griechen als Moiren auf. Die griechische Göttin Athene ist mit dem Spinnen ebenso verbunden, wie die nordische Frigg oder die teutonische Hulda, die sich in abgewandelter Form im Märchen Frau Holle wiederfindet.

In vielen klassischen Märchen der Gebrüder Grimm ist das Spinnen ein Hauptbestandteil der Geschichte, sei es nun im Rumpelstilzchen, im Dornröschen oder bei den Drei Spinnerinnen. Frau Holle ist außerdem eine Ausprägung der Frau Percht, die in den Raunächten die Häuser der Menschen aufsucht. In den zwölf magischen Raunächten darf nicht gesponnen werden, da das Spinnen mit Magie verbunden ist. Zu dieser Zeit sollen „alle Räder stillstehen“.

Zahlreiche Künstler stellten durch die Jahrhunderte spinnende Frauen in Büchern und Gemälden dar, und diese Bilder sind heute eine wichtige Quelle für die Erforschung von Bekleidungsgeschichte und textiler Technologie.

Tanja Kühnel, die Autorin dieses (stark gekürzten) Beitrags ist Graphikerin beim Verlag Anton Pustet und beschäftigt sich neben ihrer Verlagsarbeit mit dem Handspinnen sowie mit textilen Werkzeugen und Techniken – halessa.blogspot.co.atDer Salzburger Bauernkalender 2016 bringt wieder einen bunten Themenmix, etwa zum Thema Tourismusgeschichte, zur Entstehung der Sommerfrische, zur Waldnutzung, zu ländlichem Handwerk, aber auch zu Brauchtum und Sagen. An der Gestaltung des von Gertraud Steiner herausgegebenen Buchs haben Historiker, Naturwissenschaftler, Volkskundler, ebenso mitgewirkt wie Literaten.
Salzburger Bauernkalender 2016. 192 Seiten, Verlag Anton Pustet, Salzburg 2015. 11,20 Euro – www.pustet.at
Mit freundlicher Genehmigung des Verlags Anton Pustet