Jedes Werk ist ein einziger großer Roman

LESUNG ANNA MITGUTSCH

02/05/16 Vor der Kulisse der jahrhundertealten Bücher drinnen und des Klangs der stimmungsvoll läutenden Glocken draußen beginnt Anna Mitgutsch zu lesen: Vom Erinnern, von Entfremdung und Sprachlosigkeit handelt der neue Roman, von einem alten Vater und einer nicht mehr jungen Tochter, die trotz aller Liebe nicht zusammenfinden. Anna Mitgutsch las aus ihrem neuen Roman „Die Annährung“.

Von Christina König

Zuvor gab es Lob und Lorbeer für die Dichterin. Die Vizerektorin der Universität, Sylvia Hahn, nennt sich eine „verkappte Germanistin“ freut sich schon auf die „neue Mitgutsch“. Und Autor Karl-Markus Gauß philosophiert mit herrlich trockenem Tonfall über die Frage, was wohl die österreichische Literatur ohne Anna Mitgutsch wäre: Defizitär.

Nun also „Die Annäherung“. Theo hatte einen Schlaganfall und muss nun zuhause von der ukrainischen Pflegerin Ludmila betreut werden. Frieda, seine Tochter, die immer schon hinter Theos zweiter Ehefrau Berta zurückstand, ist eifersüchtig auf die Nähe, die sich zwischen Theo und Ludmila entwickelt, überhaupt auf Ludmila, die zu Theos letzter Liebe und zugleich zu der Tochter wird, die er sich gewünscht hätte – eine Tochter, die ihn nicht ständig zur Frage seiner (Un-)Schuld im zweiten Weltkrieg verhört.

Ruhig und gefühlvoll liest Anna Mitgutsch von der erblühenden Beziehung zwischen Theo und Ludmila – wenn da nur nicht plötzlich ihr Handy läuten würde. Unter Lachen aus dem Publikum hüpft sie auf, murmelt: „Das hab ich befürchtet“, und drückt ein paar Tasten. „Und unbekannt auch noch!“ Sie setzt die Lesung fort, kommt aber nur ein paar Sätze weit: Es läutet erneut. Unter mehrmaligen Entschuldigungen und Versicherungen, das wäre ihr noch nie passiert, kann der Störenfried schließlich abgewürgt werden – aus dem Publikum kommt die Vermutung, das wäre Theos Rache, dem die vorgelesene Stelle nicht gefällt.

Gegen die restlichen Szenen hat Theo wohl nichts einzuwenden – Anna Mitgutsch darf ungestört fertig lesen. Im Anschluss folgt ein kurzes Gespräch mit der Literaturvermittlerin Christa Gürtler und dem Germanistikprofessor Werner Michler, in dem die Autorin über ihren Schreibprozess spricht, über die „Wald-und-Wiesen-Psychologie“, die sie für den Roman bemüht hat, und über ihre Überzeugung, jeder Autor schreibe letzten Endes an einem einzigen großen Roman, in dem sich alle Themen immer in neuer Gestalt wiederholen. „Wer weiß, ob da jetzt noch was kommt“, sagt sie achselzuckend – und Werner Michler spricht wohl für die ganze österreichische Literaturszene, wenn er antwortet: „Hoffentlich!“

Bilder: Leseleampe / www.anna-mitgutsch.at  / Heike Bogenberger
Zum Tagungsbericht Die Literatur schuldet der Realität nichts