Es wird sicher alles besser

LITERATURFEST SALZBURG / VLADIMIR VERTLIB

18/05/16 Auf der 12.30-Schiene des Literaturfestes, im Hotel Auersperg, im oenm-Studio im Künstlerhaus oder im ICT&S Center in der Philharmonikergasse, lesen Autorinnen und Autoren, die mit Salzburg eng verbunden sind. Vladimir Vertlib lebt in Salzburg und Wien. – Sein Salzburg-Text im Booklet erzählt von einem nächtlichen Marsch am Ende der „Balkanroute“ über die Fußgängerbrücke nach Freilassing.

Von Vladimir Vertlib

„One line please!“, sage ich. „Wait.“ Und dann: Come with me.“ Elf Menschen verlassen das Zelt ältere Damen in Begleitung eines jungen Mannes, wahrscheinlich eines Verwandten. Er werde bestimmt irgendwann, wenn alles besser wird, wieder nach Salzburg kommen, um sich die schöne Stadt anzuschauen, erklärt er mir. Es wird sicher alles besser“, sage ich. „Wir Jesiden werden von allen verfolgt“, sagt er und macht eine Bewegung mit dem ausgestreckten rechten Zeigefinger am Hals entlang. Die alten Frauen lächeln: verhalten, reserviert, ohne zu grinsen. Sie versuchen, ein wenig Würde zu bewahren. Einige von ihnen tragen Nationalkostüme: lange Kleider, die mit bunten Bändern verziert sind, Kopftücher, Umhänge. Als ich das Tor aufmache und Good bye and good luck!“ sage, eilen sie zur Brücke, gefolgt von der ältesten Frau der Gruppe, die sich auf einen Gehstock stützt und besorgte Blicke in Richtung der Zelte am anderen Ufer wirft. Sie dürfte etwa achtzig Jahre alt sein, hat einen krummen Rücken, hinkt, atmet schwer, beeilt sich, schafft es trotzdem nicht, die anderen einzuholen, trottet ihnen einige Meter hinterher. Ihr Kopftuch glänzt im Licht der Straßenlaterne.

Es ist makellos weiß. Bewundernswert, dass sie auf der Balkanroute“ geschafft hat, es sauber zu halten. Die leichte Jacke schützt sie wohl kaum vor der Kälte. Wie grotesk und aberwitzig ist es, denke ich, dass diese alte Frau, die ihren Lebensabend wahrscheinlich am liebsten im Kreise der Enkel und Urenkel in ihrem Heimatdorf im Shingal-Gebirge verbringen würde, heute ausgerechnet hier, an diesem Ort, sein muss: bei strömendem Regen im Dezember, mitten in der Nacht, auf einer Rad- und Fußgängerbrücke, die von Salzburg nach Freilassig führt und die normalerweise kein Einheimischer zu dieser Uhrzeit und bei diesem Wetter jemals aufsuchen wurde. Das Gesicht der alten Frau verzerrt sich immer mehr. Sie schaut sich ängstlich um. Es scheint, als laufe sie um ihr Leben…

Eine weitere Gruppe darf hinaus, und dann bemerkt eine freiwillige Helferin, die mit mir und einem weiteren Kollegen diese Nachtschicht macht, dass eine der alten Damen ihre Handschuhe vergessen hat: schmale, rote Handschuhe. Ich nehme sie und laufe über die Brücke auf die deutsche Seite. Vor dem Eingang zum ersten Zelt, das genauso aussieht wie jenes in unserem Camp auf der österreichischen Seite, sehe ich die alten Frauen im Regen stehen. One line, please!“, sagt der deutsche Bundespolizist. One line! Wait!“

Mit freundlicher Genehmigung des Autors Vladimir Vertlib und des Literaturfests Salzburg

Vladimir Vertlib, geboren 1966 in Leningrad, emigrierte als Fünfjähriger mit seinen Eltern nach Israel, danach in die USA und über zahlreiche Umwege nach Österreich, wo er Volkswirtschaftslehre studierte und heute als freier Schriftsteller in Salzburg und Wien lebt. Für seine Werke wurde er unter anderem mit dem Anton-Wildgans-Preis 2002 ausgezeichnet. Zuletzt erschien sein Roman „Lucia Binar und die russische Seele“, in dem er von einer alten Dame erzählt: Lucia Binar ist liebenswert und voll Energie, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hat. Frische Brisen Humor lässt Vladimir Vertlib über alles wehen und sei es noch so tragisch“, schrieb Brigitte Schwens-Harrant in der „Presse“, „scharfe und satirische Blicke wirft er auf Phänomene der Gegenwart.“

Die Möglichkeit zur Begegnung mit Vladimir Vertlib und seiner eigensinnigen Heldin Lucia Binar gibt es beim Literaturfest Salzburg am Donnerstag (19.5.) um 12.30 im Hotel Auersperg. Weiters lesen wird, und zwar aus ihrer Kriminal-Liebesgeschichte „Die Prinzessin von Arborio“, die Autorin Bettina Balàka, die - wie Jochen Jung sie nennt - „Meisterin der intelligenten Unterhaltung“.
Bild: LFS/Wolfgang R. Kubizek