Räume der Stille

MOZARTWOCHE / PORTRÄTKONZERT ANDRE

02/02/12 Ein Klang-Foto? Ein akustischer Schnappschuss? Und das ausgerechnet von Istanbul, einer Stadt vielgestaltig und farbig wie wenige? Aufnahmen in Moscheen und anderen Sakralbauten, in Krankenhäusern und auf Plätzen der Stadt zwischen den Kontinenten liegen der Komposition „üg“ von Marc Andre zugrunde.

Von Heidemarie Klabacher

„üg“ ist ein recht knapper Titel für ein beinahe opulentes Werk, dessen großer Reiz in größter Zurückhaltung liegt. „üg“ ist nur ein Kürzel und steht für „Übergang“. Gerade Istanbul sei für ihn eine Stadt des Übergangs: zwischen den Religionen, zwischen den Kontinenten, zwischen Zeiten und Kulturen, erzählte der Komponist Marc Andre beim Porträtkonzert am Dienstag (31.1.) im Großen Studio der Universität Mozarteum im Gespräch mit Oliver Kraft.

Marc Andre, geboren 1964 in Paris, ist der Composer in Residence der Mozartwoche 2012. Er steuerte Musik zu der erfolgreichen Tanztheaterproduktion „gefaltet“ bei, mit der die Mozartwoche begonnen hat. Die „Nach(t)stücke“ jeweils nach den Hauptabendkonzerten bieten spannenden Einblick in das Schaffen des Komponisten. Am Montag (31.1.) spielte das Österreichische Ensemble für Neue Musik auf der Schiene „Nach(t)stücke“ das Werk „ni“. „Nach innen“ bedeutet das: Der Blickgelte dem Inneren des Klanges und der musikalischen Strukturen, aber auch dem Inneren der menschlichen Seele, erklärte der Komponist. In sieben Miniaturen führt er in „ni“ auf eine Reise vom Geräusch zum Klang und wieder zurück urück.

Beim Porträtkonzert mit zwei weiteren Stücken mit charakteristisch kurzen Werktiteln - „üg“ und „da“ - erzählte Marc Andre vom spirituellen  Gehalt seiner Werke und der Bedeutung der Titel: „Es sind Klang-Ruinen.“

„üg“ sei 2008 entstanden als Auftragswerk im Rahmen des Projektes „intro“, das vom Ensemble Modern und dem Siemens Arts Programm in Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut initiiert und in Istanbul realisiert worden sei. Es sei ihm darum gegangen, die Essenz der Stadt akustisch zu erfassen. Natürlich weit weg von „Programm-Musik“. Viele konkrete Situationen, im Krankenhaus, in der Moschee, lägen dem Klangmaterial zugrunde. Aber auch Szenen wie „Schiffe am Bosporus“ kämen nur in total dekonstruierter und fragmentarischer Form im Stück vor.

Tatsächlich schienen diese Einspielungen von fremdsprachigen geflüsterten Wortfragmenten oder auch einem Wellenrauschen aus einer anderen Welt herüber zu klingen. Realisiert wurde die Live-Elektronik von den Meistern des Experimentalstudios des SWR. Es spielte das Österreichische Ensemble für Neue Musik unter der Leitung von Peter Rundel.

Wie klingt nun die Musik von Marc Andre? Genau betrachtet, kommt wenig vor, was nicht spätestens seit Helmut Lachenmann gängig ist: Luftgeräusche der Blasinstrumente oder (seltener bei Andre) Klappengeräusche, dafür häufig jene dumpfmarkanten Klänge, die entstehen, wenn man mit der Handfläche auf das Mundstück eines möglichst tiefen Blechblasinstrumentes klatscht. Bei den Streichern sind es tonlos gestrichene Saiten bzw. Striche auf dem Steg oder seitlich am Steg (dieses vor allem beim Kontrabass), Striche mit  unterschiedlich starkem Druck auf die Saiten, bis hin zum gepressten Knarren … All das kennt man.

Dennoch eignet den Stücken von Marc Andre, der tatsächlich von seinem Lehrer Helmut Lachenmann maßgeblich beeinflusst wurde, eine ganz eigene Qualität: Mit kleinsten musikalischen Gesten, Geräuschen, Tönen werden Klangräume geöffnet. Selbst in den allerleisesten Passagen öffnen sich immer neue Töne und Klänge - bzw. Geräusche. Der Übergang vom Geräusch zum Ton interessiert den Komponisten. Und es gelingt ihm, seine Zuhörer ebenfalls dafür zu interessieren - bis kurz vor dem endgültigen Verschwinden des Klanges sich reine Quinten und Obertonwirkungen zu schillernden Klangspektren auffächern. Dazwischen: Räume der Stille. Spannend.

Bild: ISM/Marc Andre