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Überlegt gefüllte Freiräume

CD-KRITIK / CARMINA BURANA

30/03/22 „O Fortuna velut luna“, da hat jeder Musikhörer augenblicklich den knalligen Anfang (und das Ende) von Carl Orffs Carmina burana im Ohr. Das ist eine komplette Neukomposition, denn es ist einer jener vielen Texte aus der um das Jahr 1230 niedergeschriebenen Scholaren- bzw. Vaganten-Handschrift, zu denen keine Melodie überliefert ist.

Von Reinhard Kriechbaum

Also freie Hand, wenn man das heute musikalisch umsetzt? Der Harfenist und Flötist Norbert Rodenkirchen kam bei diesem Text zu einer sehr individuellen Lösung. Ihm ist aufgefallen, dass das Versmaß genau jenem der Fronleichnamssequenz „Pange lingua gloriosa“ entspricht, Nicht abwegig die Idee, dass den Klosterschülern im frühen 13. Jahrhundert genau dies auch bewusst war. Womöglich eine planmäßige Inhaltsverdrehung durch Kontrafaktur? Jedenfalls lässt Rodenkirchen als Leiter und zugleich Ensemblemitglied von Candens Lilium die Sängerin Sabine Lutzenberger das „O Fortuna“ eben auf die wohlbekannte gregorianische Melodie singen. Das ist dann, in einem luziden Arrangement, ein lyrisches, besinnliches Stück.

Wie ist der CD-Titel Carmina burana today zu verstehen? Norbert Rodenkirchen, ein unermüdlicher Nachfrager, wenn es um mittelalterliche Musik geht, ist als Musiker und Musikologe genau das Gegenteil von einem Dogmatiker. Er nutzt und respektiert die Erkenntnisse, die Historiker und Musikwissenschafter liefern, aber er weiß die Freiräume zu nutzen, die sich trotz umfänglicher musikologischer Forschungen und Erkenntnisse bieten. Solche Blankstellen gibt es zuhauf, obwohl die in der Bayerischen Nationalbibliothek befindliche und auf vorbildliche Weisde online zugänglich gemachte Handschrift nun wirklich kreuz und quer durchleuchtet und durchforscht ist. Auf den 237 Pergamentseiten finden sich Melodien nur über knapp einem Fünftel der Texte – und das sind linienlose St. Gallener Neumen, die also auch erst der Suche nach musikalischen Konkordanzen bedürfen.

So also kommt es zu Carmina burana today. Jeder Musiker, der sich mit dem Konvolut beschäftigt, ist aufgefordert, seine eigenen Hypothesen zu suchen – und die können immer nur eine Annäherung an die Forschungslinie sein. Norbert Rodenkirchens Zugang ist ja bekannt, nie ist Befrachtung sein Ziel. Mit einigen wenigen Tönen gibt er der Singstimme Richtung und harmonichen Halt. Flöte, Harfe, Fiedel und Rebec: Damit sorgt Candens Lilium für Aura und die auf Schalmeien und Dudelsack pfeifenden Kollegen von Les Haulz et les Bas sorgen gelegentlich für Abwechslung, Lockerung und interessante Polyphonie.

Mit knapp 42 Spiel-Minuten und einer Auswahl von nur zwölf Texten wird man nicht überstraziert. Kein Booklet, also auch keine Liedtexte, eine nur knappe Einführung. Das tut schon ein bisserl weh. Für das zweisprachige „Audientes audiant“ wählte man die Form eines Melodrams (männliche Sprechstimme unter dem Sabine Lutzenbergers Gesang, in dem Fall auf die Melodie von Walthers von der Vogelweide „Palästinalied“): Da täte man schon zu gerne Wort für Wort mitlesen.

Carmina burana today. Candens Lilium, Les Haulz et les Bas, Ltg. Norbert Rodenkirchen – www.nemu-records.com

 

 

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