Erstmals wieder gelesen und aufgemotzt

CD-KRITIK / THOMAS SELLE

17/07/23 Als Musikchef über die vier Hamburger Hauptkirchen hatte Thomas Selle (1599-1663) den Top-Job in der evangelischen Kirchenmusik seiner Zeit inne. Aber wer hat je Musik von ihm gehört?

Von Reinhard Kriechbaum

Er war nach aktuellem Wissensstand der erste, der in Vertonungen der biblischen Passion Einlagesätze einfügte und damit die barocke „Vollform“ der Passion zumindest vorbereite. Schließlich hat er gegen Lebensende fast sein gesamtes kompositorisches Werk nochmal in sechzehn Stimmbüchern und drei Tabulaturbänden zusammenschreiben lassen und der Stadt Hamburg übereignet. Die Quellenlage wäre also, könnte man meinen, exemplarisch übersichtlich und gut.

Es war das Urteil der Musikgeschichte, das gegen die nach-weltliche Rezeption sprach: Die Musik des Schütz-Zeitgenossen ist alsbald in der Versenkung versunken und auch heute sind Selle-Aufführungen und CDs eher rar gesät.

Ein verdienstvolles Projekt also von Monika Mandelartz, sich die 1634 gedruckte Sammlung Concertuum Binis Vocibus ad Bassum Continuum vorzunehmen. Ein inhaltlich eigenwilliges Konvolut von Musik, aus der die unmittelbare Monteverdi-Rezeption spricht, in einer spontan und experimentierlustig anmutenden Form. Der spürbar neugierige Thomas Selle durfte sich da wohl rechtens als ein Vorreiter im hereinbrechende Generalbasszeitalter fühlen, zumindest im Norden Deutschlands.

Der Inhalt: Sechs Huldigungsgesänge auf einen Schleswig-Holstein'schen Provinzfürsten und seine Familienmitglieder. Die bilderreichen Gedanken wirken literarisch und musikalisch wie spontane Gedankenblitze und verlangen den Sängern einiges an Virtuosität ab. Darauf folgen vier kürzere und deutlich schlichter gehaltene „Sententias sacras“ (Psalmverse und andere biblische Kurztexte), die den Kleinen geistlichen Konzerten von Heinrich Schütz ähneln, aber bemerkenswerterweise zwei Jahre vor diesen entstanden sind. Also auch wieder: Thomas Selle war vorne dran.

Monika Mandelartz motzt vor allem die Huldigungsgesänge mächtig auf, setzt das Instrumentarium von The Muses' Fellows (Blockflöten, Geige und Violoncello und ein Arsenal an Tasteninstrumenten) effektvoll ein. Die Zahl der Vokalstimmen bleibt nicht, wie auf dem Papier, auf zwei beschränkt. Es entsprach gewiss der Praxis der Zeit, aufzustocken und aufzutrumpfen, wenn mehr Sängerinnen und Sänger zur Verfügung standen. Salopp gesagt: Das macht was her.

Schön, dass dieses Projekt mit dem Titel Kinder des Liechts (ein Zitat aus einem der geistlichen Texte) von einem sehr ausführlichen Booklet begleitet wird. Da erfährt man viel über die geschichtlichen Hintergründe, über mögliche Interpretationen der doch einigermaßen krude anmutenden Ansammlung von Stücken, und natürlich auch einiges über das Wie und Warum der musikalischen Lösungen. Es ist wohl das erste Mal seit nicht ganz vier Jahrhunderten, dass jemand diese Noten hervorgeholt hat Der Befund: im Detail originell, aufwühlend gar, aber auch irritierend sprunghaft. Heinrich Schütz hatte die Wort-Ton-Balance deutlich überzeugender im Griff als Thomas Selle. Das Urteil der Geschichte ist hart, aber gerecht.

Thomas Selle: Kinder des Liechts. Virtuose Laudationes und kleine geistliche Konzerte. Anne Schneider, Pia Davila, Florian Sievers, Stephan Scherpe, Sönke Tams Freier, The Muses' Fellows, Ltg. Monika Mandelartz. Coviello Classics, COV92214 – www.covielloclassics.de