Knödel mit Hals

HARNONCOURTS KLANG-REDEN / PODCAST

04/04/22 Es gibt Wunder. Eine Kiste mit Tonbändern – unbekannte Mitschnitte von Vorträgen, Reden, Unterrichtsstunden oder „teils heftigen Diskussionen“ – von und mit Nikolaus Harnoncourt ist nach fünfzig Jahren aufgetaucht und seiner Witwe Alice Harnoncourt übergeben worden. Ihre Idee dazu – ein Podcast.

Von Heidemarie Klabacher

„Haben Sie sich jemals überlegt, warum Töne wiederholt werden“, fragte einst Nikolaus Harnoncourt. „Ist doch merkwürdig. Nicht taaaa, sondern tatatata....“ Auch sie selbst habe sich „nicht gefragt, warum es Tonwiederholungen gibt“, sagt heute Alice Harnoncourt in der Reihe Harnoncourts Klang-Reden im aktuellen Podcast vom 28. Februar. „Ein Ton genügt ja eigentlich. Und dann wiederholt man und dann merkt man, dass es etwas aussagt, eine Emotion weckt...“ Spannender hat den Vortrag von Nikolaus Harnoncourt im Rathaus von Bremen einst garantiert niemand eingeleitet, als fünfzig Jahre später die Geigerin und Weggefährtin Alice Harnoncourt, die Ehefrau des 2016 verstorbenen Dirigenten, dessen Todestag sich am 5. März jährt.

Wer Harnoncourt je als Redner oder gar bei einer Probe erlebt durfte, erinnert sich. Die Energie. Die Begeisterung. Die irren Sprachbilder! Chorsängerinnen haben coole Harnoncourt-Sprüche bücherweis  herausgegeben. Seine Schriften, nicht nur Musik als Klangrede, sind ein lebendiger Quell an Erkenntnis und Information. Egal, auf welchem Niveau der musikalischen und musiktheoretischen Informiertheit man sich ihnen nähert: Der Maestro konnte Abstraktes, scheinbar nur den Wissenschaftler Interessierendes, anschaulich und lebendig machen. Was er in den Blick nahm, schriftlich oder mündlich, wurde Ereignis, hatte geradezu Thrill. Wie seine Musik.

Legendär und richtungsweisend sind die Vorträge des Dirigenten. Das zeigen auch die lang verschollenen Mitschnitte von Workshops, Vorträgen, Unterrichtsstunden oder Diskussionen aus den 1970er Jahren, die dem zehnteiligen Ö1-Podcast zugrunde liegen. Der Journalist Wolfgang Buchner, damals bei Radio Bremen Redakteur für Alte Musik, hatte „viele Stunden Material aufgezeichnet“. Dieses sei in Vergessenheit geraten und erst 2021 als Kiste voller Tonbänder in Buchners Nachlass wieder aufgetaucht, meldete der ORF. Die Ö1-Redakteurin Judith Hoffmann präsentiert nun zusammen mit Alice Harnoncourt wöchentlich Harnoncourts Klang-Reden.

Radio Bremen habe ihr das Material zur Verfügung gestellt, erzählt Alice Harnoncourt im Podcast vom 28. Februar. „Es wurde irgendwann einmal entdeckt, Gott sei Dank.“ Sie kannte das Material vorher nicht, habe sich wahnsinnig darüber gefreut, als es ihr angeboten wurde und überlegt: Wie kann ich das ein bisschen verbreiten. „Ich will ja nicht, dass es belehrend ist. Aber ich finde es unterhaltsam und sehr informativ.“

Diese Kostbarkeiten – fast fünfzig Jahre alt und jung wie nix – können nun nachgehört werden. Jeweils montags im Ö1 Kulturjournal um 17.09 Uhr gibt es neue Auszüge aus dem wieder aufgefundenen Tonmaterial. Für den Podcast ergänzt und kommentiert die 91jährige Alice Harnoncourt die Vorträge ihres Ehemannes und Kollegen und „erinnert sich an die Musik als gemeinsame Obsession seit Studientagen, an Hundert-Stunden-Arbeitswochen, Konzerttourneen rund um den Globus und vor allem an die unermüdlichen gemeinsamen Nachforschungen zu Instrumenten und Aufführungspraxis“.

Es wird darüber gesprochen, dass die Musik vor dem 18. Jahrhundert nicht „mit dem breiten Pinsel malt“, sondern „erzählt“. Oder davon, wie wenig ein „schwarzer Knödel mit einem Hals dran“ (Harnoncourts Fachterminus für Note) die musikalische Intention des Komponisten wiedergeben könne. „Ganz einfach darlegen, was doch so kompliziert ist und doch so viel Vorarbeit und Forschung verlangt hat“, sei die herausragende Fähigkeit Harnoncourts gewesen, sagt Ö1-Redakteurin Judith Hoffmann im aktuellen Podcast. Und schon ist man mitten drin. Warum WERDEN Töne wiederholt?

„Wenn Sie mit der Satzlehre vertraut sind, dann wissen Sie ja, dass die Tonwiederholung im strengen Satz verboten ist.“ Sagt Harnoncourt. In der der Musik vor 1600 suche man vergeblich nach Tonwiederholungen. Diese seien „effektiv eine Erfindung“ und zwar Claudio Monteverdis, von diesem erstmals angewendet im dramatischen Madrigal Combattimento di Tancredi e Clorinda: „Da verwendet Monteverdi bewusst zum ersten Mal die Zerteilung einer ganzen Note in Sechzehntel.“ Bis dahin habe es in der Musik nur zwei Affekte geben, „Mäßigung“ und „Traurigkeit“. Schlechte Übersetzung, sagt Harnoncourt. Besser wären die Begriffe des „Maßes“ beziehungsweise des „Gemessenen“ und des „Traurigen“. Nicht ausgedrückt werden konnten vor Monteverdi die Emotion des  „Eifers“, der „Erregung“. Das könne man nur, habe Monteverdi bei den griechischen Philosophen erforscht, „indem ein Ton so oft wiederholt wird, bis der Hörer erschüttert wird“. Wo Erregung nicht hervorgerufen werden soll, „hören Sie lange Akkorde, die nicht unterteilt sind“. Wo aber diese Akkorde unterteilt seien, werde diese Spannung und Erregung des Hörers und des Spielers erwünscht: „Dass das eine Auswirkung auf die Interpretation haben muss, das ist doch selbstverständlich! Es macht einen Unterschied, ob ich eine Tonwiederholung so spiele, als ob es einfach nur Noten wären, die sich wiederholen, oder ob sie eine ganz bestimmte Stimmung oder Grundtendenz darstellen sollen.“

Harnoncourts Klang-Reden – neue Folgen im Ö1 Podcast jeweils montags im Ö1 Kulturjournal um 17.09 Uhr – die kompletten Podcastfolgen auf – radiothek.orf.at
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