Hexensabbat, nacktes Bein und Headbanging

PFINGSTFESTSPIELE / LA TORRE DEL ORO

05/06/22 La Torre del Oro, der Goldturm von Sevilla, steht als Symbol für ein Spanien, das die Neue Welt nicht nur mit abscheulicher Gier ausbluten ließ. Die kolonialen Kontakte aus Spanien sorgten auch für Austausch und kulturelle Impulse – und die zeigten eben auch Auswirkungen auf Europa zeugte. Glänzende Kulturgeschichte aus mitreißender Musik von L’Arpeggiata unter Christina Pluhar.

Von Erhard Petzel

Das europäisch durchmischte Ensemble, am Samstag (4.6.) im Haus für Mozart zu Gast, legt selbst Zeugnis für diese Verschmelzung ab, mit Leo Rondón auf der Cuatro (einer kleinen viersaitigen Gitarre) und Rafael Mejias an den Maracas (Rasseln). Beide kommen aus Venezuela. Mit ihren Solo-Auftritten erzählen sie die im Programmheft ausführlich behandelten Geschichten nach, wie Jesuiten und Indigene mit weiteren Einflüssen durch afrikanische Sklaven zu einer eigenen Kultur fanden, die gerade in der Musik zu einer ganz besonderen Befruchtung führte. Wenn nun wir „unterkühlte“ Mitteleuropäer uns vom spanischen Feuer entzünden lassen, so darf man sich diesen Austausch zwischen Neuer und Alter Welt auf ähnliche Weise denken. L’Arpeggiata nimmt freilich kein „heiliges Experiment“ in Angriff, wie es die Jesuiten in ihren Missions-Ansiedlungen (Jesuiten-Komminutäten) im Sinn hatten. Das von Christina Pluhar konzipierte und geleitete Programm ist ein temperamentvoll-verführerisches Projekte Alter Musik.

Zwar ist nicht sicher, ob die eingangs erwähnten venezulanischen Musiker indigene Wurzeln aufweisen, aber die Einleitungen und Instrumentalimprovisationen auf der Cuatro, dieser kleinen Verwandten der Gitarre, führen gleich zu Erregungszuständen im Publikum. Und das Wechselspiel zur Sängerin in Pajarillo (Vögelchen) macht staunen, für welch differenzierte Klang- und Rhythmuswelten die Rumbakugeln, die in Wirklichkeit Maracas heißen, eingesetzt werden können. Der Szenenapplaus fügt sich in das Gesamtkunstwerk Golpe (verdienstvolles Programmheft), ein gedehnter Ruf führt zur Explosion der Libido in einem furiosen Parlando Luciana Mancinis, deren rauchige Stimme auch von einem Mann kommen könnte. Im venezulanischen Volkslied Pajarillo verde gibt es ein Duett mit Doron Sherwin am Zink.

Im Schlusslied El Curruchá (1928) von Juan Bautista Plaza tauscht sich Luciana Mancini in einem fetzigen Joropo mit Vincenzo Capezzuto aus, indem die beiden ein Duell aus Liebeszusagen ausfechten. Dessen Altstimme könnte dafür von einer Frau stammen, sodass dieses vokale Vexierspiel einen zusätzlichen Reiz des Abends ausmacht. Dazu die dramatische Note und Sprachvirtuosität der Frau zur Komik des Mannes, der sich schon äußerlich als bunter Vogel zeigt und sein Bewegungsrepertoire geschickt bis zur Groteske ausreizt. Die Welt des Schönen, Guten und Wahren findet sich im vollen und wandlungsfähigen Sopran von Céline Scheen. No hay que decircle el primor eines Anonymus bringt alle drei auf der Bühne zusammen. Ein spöttischer Jácaras mit typischen Hemiolen, in dem die Überheblichkeit einer Schönen gebrandmarkt wird.

Die vierte Solistin komplettiert die Kommunikation auf spektakuläre Art. Anna Dego fetzt erotisch ihren ans Hagere grenzenden Leib zu Fandango, Moresca, Jácaras, agiert mit Mancini zur Montilla und entwickelt ihren Rock zur Lucerito mit Capezzuto. Hexensabbat, nacktes Bein und Headbanging machen die historischen Grenzreize deutlich, in denen sich derlei Ausdrucksformen befanden. Die aufgekochte Stimmung im Haus für Mozart entlädt sich in einer Draufgabe, in der alle ihr ADHS ausleben in Tanz und Gesang. Sherwin verlässt seinen Zink um auf Deutsch dazwischen zu rappen. Standing Ovations erzwingen eine weitere Draufgabe, bis endlich die Begeisterung der Erschöpfung weicht. Das hätte dem Woiferl sicher gut gefallen.

Christina Pluhars Programm gibt eine Vorstellung zum Kontinuum des Spanischen als musikalischen Topos über die Jahrhunderte. Der Allgemeinplatz, dass barocke Traditionen in der Diaspora stärker erhalten bleiben und rückwirkend die Herkunftskultur befruchten, wird hier in spektakulärer Weise dargestellt, wobei schon Vorbarockem und Volkstümlichem große Bedeutung zukommt. Zwei Gitarren, Harfe, Psalterion und gezupfter Bass geben zum Cembalo und der Perkussion einen ziemlich rockigen Grundtenor, der das zur Geltung bringt, was bei uns als typisch spanisch empfunden wird. Die Tradition verschiedener Formen und Gattungen, die stark in das europäische Musikwesen ausgestrahlt haben, wird hier auf eine Weise belebt, dass Viola da Gamba und Zink ein breites Musikempfinden in der heutigen Gesellschaft berühren und beseelen können.

Bilder: Salzburger Festspiele / Marco Borelli